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Titel: Binärcode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Gude
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beiden erst am Carl-Schenck-Ring wieder ein. Der Penner hatte versucht, über den Bretterzaun des Knell-Geländes zu klettern, und Brecker hatte ihn wie einen faulen Apfel heruntergepflückt. Jetzt saß der arme Schlucker keuchend im Gras. Brecker, breitbeinig über ihm, redete beruhigend auf ihn ein. Rünz versuchte, flach zu atmen, trotz der Kälte roch er die Ausdünstungen des Obdachlosen, die typische Mischung aus altem Schweiß, Urin und Straßendreck, die internationale olfaktorische Visitenkarte von Menschen, die nicht weiter absteigen konnten. Die beiden Polizisten brauchten einige Minuten, um ihm klarzumachen, dass sie ihn nicht fertigmachen wollten. Dann noch einmal ein paar Minuten, in denen Brecker die Fingerknöchel seiner mächtigen Pratzen knacken ließ, bis er bereit war, ihnen sein kleines Geheimnis zu zeigen. Brecker spielte virtuos mit dem verstörenden Kontrast zwischen seiner bedrohlichen körperlichen Präsenz und einer samtweich einschmeichelnden Stimme. Guter Cop und böser Cop in Personalunion.
    Sie kletterten über die Bretterwand. Rünz schaute über das Gelände – der Hochbunker, der Stapel alter Eisenbahnschwellen, der ihm das Leben gerettet hatte, vom Wind zerfetztes Absperrband des Spurensicherungsteams. Er hatte den Tatort auf Dutzenden von Fotos aus allen Perspektiven gesehen, aber selbst der reale Anblick löste nicht seine Erinnerungssperre. Der Penner führte sie quer über das Gelände. Die Brachfläche hatte sich verändert in den wenigen Wochen seit den Morden, von Osten und Süden arbeiteten sich Abbruchteams mit schwerem Gerät vor, Hallen wurden abgerissen, Betonbrocken mit Armierungseisen zu Halden zusammengeschoben. In wenigen Monaten würde der letzte große Abenteuerspielplatz der Darmstädter Parallelgesellschaft frei geräumt sein und als Gewerbegebiet dem ökonomischen Verwertungszyklus zugeführt werden.
    Der Penner schwang sich unerwartet behände die Laderampe an einer der alten Richthallen hoch und verschwand in dem offenen Tor. Bevor die Polizisten das Gebäude betreten hatten, kam er ihnen schon wieder entgegen, im Schlepptau an einem Seil ein unsäglich stinkendes, langes Lumpenbündel hinter sich herziehend.
    »Nur Tarnung …«, nuschelte der Penner, »… jibt kein Versteck, wo besser is als ’n alten Lumpen, wo nach Kacke stinkt .«
    Der Alte bückte sich und schlug die Lappen zurück. Rünz ging in die Hocke, eine Hand an der Nase. Es bereitete ihm fast körperliche Pein, ein so erlesenes Meisterstück des Büchsenmacherhandwerkes in einem so erbärmlichen Zustand zu sehen. Mit einem Taschentuch drehte er die Waffe und betrachtete sie von allen Seiten. Die Picatinny-Schiene war arg zerschrammt, der Alte hatte sich nicht viel Mühe gegeben bei der Demontage des Zielfernrohrs.
    »Klappschaft, verkürzter Lauf, Polymermagazin, keine Seriennummer – die gehört nicht zu den Großserien, mit denen Dragunov die Scharfschützen der osteuropäischen Armeen ausstattet. Das ist eine Spezialanfertigung .«
    »Wer lässt sich so was bauen ?« , fragte Brecker.
    »Irgendein Waffennarr wie wir, nur dass er nebenher noch russischer Rohstoffmilliardär ist. Oder Leute, die von anderen Leuten gut dafür bezahlt werden, sehr spezielle Aufträge auszuführen. Wo haben Sie die gefunden ?«
    Der Penner druckste herum und nuschelte unverständliches Zeug. Brecker ließ die Fingerknöchel knacken.
    »Bunker.«
    »In dem Hochbunker drüben? Das ist unmöglich, unsere Leute haben da jeden Quadratzentimeter abgesucht !«
    Der Penner zog mit seinem schwarzen Zeigefinger ein Unterlid herunter und zeigte Rünz grinsend das Weiße an seinem Augapfel.
    »Da hab icke dat Schießeisen doch längst in Sicherheit jebracht, der Typ hat mir det ja praktisch wie’n Baby in die Arme jeworfen, wie ick unten da sitz unn mein Jeschäft mach. Is nämlich mein Klöchen da unner der Wendeltreppe, müssen Se wissen .«
    Rünz stand wieder auf. Er fragte sich, welchen kruden Spracheinflüssen dieses Unterschichten-Berlinerisch im Laufe seiner Entwicklung ausgesetzt war.
    »Sie haben ihn gesehen ?«
    »Neenee, viel zu dunkel .«
    Brecker stellte sich auf wie Meister Proper und zog bedrohlich die Augenbrauen zusammen.
    »Jetzt mal langsam und von Anfang an, Alter.«
    »Joo. Iss’n paar Tage her, bin im Bunker, Hose runter. Draußen Rumgezeter, schaue mal raus, liegt so’n Dicker am Boden, ’n anderer immer feste druff, mit Jewehr inner Hand. Halt dich mal besser bedeckt, sach ich mir, unn zurück

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