Binärcode
diskutieren. Sie hatten von Freuds Arbeiten über das Reich des Unbewussten und die Traumdeutung gehört und mit genialischem Weitblick den exponentiell wachsenden Bedarf an Reflektions- und Seelenarbeit in hochgradig arbeitsteilig organisierten Dienstleistungsgesellschaften vorausgesehen. Was lag also näher, als diesen Emerging Market mit Kunstwerken zu bedienen, die praktisch nach allen Seiten interpretationsoffen waren und die freie Assoziation geradezu herausforderten?
Die Therapeutin schwieg seit einigen Sekunden, die Stille hatte Rünz aus seinen Reflexionen gerissen.
»Wie bitte? Entschuldigen Sie, ich habe einen Moment nicht zugehört .«
»Ich fragte Sie, Herr Rünz, ob Sie sich noch an das erste leidenschaftliche Erlebnis mit Ihrer Frau erinnern können ?«
Aufmunternd strahlte sie ihn an, am Revers ihres malvenfarbenen Kostüms steckte eine tennisballgroße Blüte, in platter Symbolik den zweiten Frühling ankündigend, auf den Rünz’ Ehe nach erfolgreicher Therapie zusteuerte. Sie war eine Meisterin des aktiven Zuhörens. Sobald Rünz oder seine Frau etwas erzählten, stützte sie ihr Kinn auf die Handknöchel, riss ihre Augen auf wie Scheinwerfer, als hätte sie in ihrem Leben noch nichts Spannenderes gehört, und kommentierte die Beiträge alle paar Sekunden mit einem ›mhmmm‹. Mit geringen Modulationen dieses Mollakkordes aus Weichkonsonanten konnte sie eine ganze Palette subtiler Bewertungen ausdrücken, die Rünz nach und nach entschlüsselte. Ein knappes, kehliges ›hm‹ bedeutete ›das ist ja ein Ding‹. Wenn sie die Mundpartie skeptisch zusammenzog, die Augenbrauen liftete, die Lippen wie eine Magenkranke zusammenpresste und das ›mhm‹ hart und kurz ausklingen ließ, war klar, dass sie Rünz’ Statement für Bullshit hielt. Alles an ihr signalisierte und forderte warmherzige Offenheit – sie gehörte zu den anstrengendsten Menschen, die Rünz je kennengelernt hatte.
Er kicherte und gluckste.
»Amüsiert Sie meine Frage ?«
»Na ja, da kann ich mich eigentlich noch sehr genau dran erinnern .«
»Wunderbar, legen Sie los !«
Er schaute skeptisch zu seiner Frau, die ihn bestärkend anlächelte.
»Wir müssen 16 oder 17 gewesen sein und kannten uns erst ein paar Wochen. Ich war zum ersten Mal bei ihr zu Hause, wir lagen in ihrem Zimmer auf dem Bett und …«
Rünz zögerte. ›… machten Petting‹? ›… fummelten‹? Was war der richtige Ausdruck in dieser Situation?
»… und wir manipulierten an unseren sekundären Geschlechtsorganen .«
Ja, so ging es. Klang ein bisschen nach einem Ermittlungsbericht über eine sexuelle Nötigung, aber egal. Unter Zeitdruck entwickelte er die besten Ideen.
»Wir kamen ein wenig in Fahrt, als ich merkte, dass ich …«
Pinkeln? Strullen? Urinieren?
»… meine Blase entleeren musste. Ich verlasse also das Zimmer und stehe im Flur, klopfe an die Tür, das Bad ist besetzt. Schließlich kommt Klaus – der Bruder meiner Frau – heraus. Sie müssen wissen, mein Schwager war damals schon zwei Meter groß und wog über 100 Kilo, fettige Haare, Pickel, ein riesiger Nerd, würde man heute sagen.«
Rünz redete sich in Fahrt, hatte fliegend vom Präteritum ins Präsens gewechselt, um seiner Anekdote mehr Drive zu geben. Die ganze Veranstaltung schien ihm eine stammtischmäßig kumpelhafte Note zu bekommen, die ihm sehr zusagte.
»Klaus grinst mich also hämisch an, und als ich mich an ihm vorbei ins Bad drücke und die Tür hinter mir schließe, weiß ich warum. Ein unsäglicher Gestank verschlägt mir den Atem – Klaus hatte einen seiner titanischen Haufen in die Schüssel gesetzt …«, Rünz formte mit seinen Handflächen eine imaginäre Melonenhälfte, »… und nicht abgezogen. Du weißt doch, deine Eltern hatten damals diesen Flachspüler, in dem …«
Irgendetwas am Blick seiner Frau brachte ihn davon ab, diese sanitärtechnischen Details zu vertiefen.
»Ich stehe also in dieser Wolke, und mir wird klar, dass mein Schwager mir ein kapitales Kuckucksei ins Nest gelegt hat. Was sollte ich tun? Wieder rausgehen und ihm sagen, er soll das wegspülen? Oberpeinlich, außerdem hätte er sofort abgestritten, den Stinker in die Schüssel gesetzt zu haben. Einfach drüberpinkeln und das Bad verlassen? Jeder, der als nächster ins Bad gegangen wäre, hätte mir das Ei in die Schuhe geschoben – ziemlich unangenehm. Mir blieb also nichts anderes übrig, als die Sauerei selbst wegzumachen, aber mit Spülen war das nicht getan, ich
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