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Titel: Binärcode Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Gude
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aufbewahrte, bevor man es auf den Sperrmüll brachte. Zum ersten Mal, seit sie hier wohnten, wurde ihm bewusst, dass er sich hier eigentlich in einem Kinderzimmer befand, wenn man sich den ursprünglichen Sinn des Grundrisses vergegenwärtigte. Rünz schluckte. Letztlich war seine Kotzangst der ausschlaggebende Grund für ihre Kinderlosigkeit, er hätte niemals einen so virilen Infektionsherd wie ein Kleinkind um sich herum dulden können. Seine Neurose verlangte ihm einen der höchsten Preise ab, die man im Leben zahlen konnte – den Verzicht auf Fortpflanzung. Tränen stiegen ihm in die Augen. Die Diagnose hatte ihn abrupt mit seiner Vergänglichkeit konfrontiert, und wie nie zuvor in seinem Leben erfüllte ihn mit Macht die Sehnsucht, sich mit einem kleinen Menschen zu verewigen.
    Er musste sich irgendwie ablenken. Mitten im Raum stand der Karton mit dem Teleskop. Stadelbauer hatte es ihm einige Tage zuvor vorbeigebracht, als unbefristete Leihgabe. Rünz hatte ihn nicht darum gebeten, der Astronom versuchte offensichtlich, ihn für die ganze Sternengeschichte zu begeistern, vielleicht wollte er ein neues Vereinsmitglied akquirieren. Was die Aggressivität seiner Mitgliederwerbung anging, konnten sich die Scientologen eine dicke Scheibe von ihm abschneiden. Der Astronom hatte das Gerät vor einigen Jahren ausgemustert, aber versichert, es sei für den Einstieg genau das Richtige. Fast eine Stunde hatte er Rünz am Telefon die Vor- und Nachteile der verschiedenen Bauweisen erläutert, über physikalische Funktionsprinzipien von Refraktoren und Reflektoren referiert, Newton-Spiegel mit Schmidt-Cassegrain-Systemen verglichen, azimuthale Montierungen den parallaktischen gegenübergestellt. Rünz schaltete das Deckenlicht an, öffnete den Karton und nahm die Einzelteile heraus. In einer zerfledderten Kladde fand er eine ausführliche Anleitung, die er sich auf dem Boden bereitlegte. Ein stabiles dreibeiniges Stativ bildete das Fundament der ganzen Anlage, er zog die Stützen so weit wie möglich auseinander, dann setzte er behutsam die Montierung auf den Stativkopf und schraubte die Gegengewichte auf die Gewindestange. Jetzt stiegen die Anforderungen, er wurde aufgefordert, an der Montierung die geografische Breite einzustellen. Er schlich in sein Arbeitszimmer, startete den Computer und fand den korrekten Wert für Darmstadt im Internet. Der Rest war wieder handwerkliche Arbeit, die ihm kaum weniger Vergnügen bereitete als der Zusammenbau seines Revolvers nach einer Intensivreinigung. Er schob die Prismenschiene in die Montierung, befestigte die massiven Schellen und legte den schweren Teleskoptubus vorsichtig hinein. Dann zog er die Klemmschrauben leicht an, so konnte er das Teleskop durch Hin- und Herschieben noch ausbalancieren. Immer wieder war Feinmotorik gefragt – er montierte das Sucherfernrohr, ein zierliches Linsenteleskop, als kleiner Bruder huckepack auf dem Spiegelteleskop befestigt. Nachdem er die Okulareinheit justiert hatte, die wie ein kleiner Abzweig aus einem Wasserrohr orthogonal aus dem Hauptzylinder herausragte, trat er einen Schritt zurück und betrachtete stolz sein Werk. Stadelbauers trockene Ausführungen gewannen erst jetzt vor dem praktischen Beispiel an Kontur. Das Funktionsprinzip war denkbar einfach: Ein weit entferntes Objekt schickte annähernd parallele Lichtstrahlen, die die Öffnung des Teleskops ungebrochen durchquerten und vom großen Hohlspiegel am rückwärtigen Ende gebündelt Richtung Öffnung zurückgeworfen wurden. Ein kleiner Spiegel mitten im vorderen Teil des Teleskops, um 45 Grad geneigt, lenkte das Sternenabbild senkrecht zur Blickrichtung des Teleskops aus dem Tubus heraus in das Okular, an dem der Beobachter stand. Der Vorteil dieser Konstruktion war offensichtlich – trotz kurzer Bauweise konnte eine große Brennweite realisiert werden, der große Durchmesser des Hohlspiegels ermöglichte zudem hohe Lichtstärken. Ein intelligentes, kompaktes und zweckmäßiges Gerät, dessen Form sich bedingungslos seiner Funktion unterwarf. Gab es etwas Ästhetischeres als Wissenschaft und Technik?
    Mit gelösten Klemmungen und Justage der Gegengewichte versuchte er, den Tubus probeweise auszurichten. Rünz war hellwach und konzentriert, seine Kopfschmerzen nahm er kaum noch war. An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Er war hungrig auf sein ganz persönliches ›First Light‹, den mit großer Spannung erwarteten ersten Lichtstrahl, der durch sein neues Sternenfernrohr fiel.

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