Binärcode
Den Flügel des Dachfensters weit aufgeschwenkt stand er in der offenen Luke und spähte in den winterlichen Nachthimmel. Er hatte Glück, der Mond stand an einer günstigen Position im ersten Viertel der zunehmenden Halbmondphase. Schon mit bloßem Auge war zu erahnen, wie das Licht im Dämmerungsstreifen das Kraterrelief der Oberfläche des Erdtrabanten herauspräparierte. Er fröstelte, die klare Nachtluft fiel durch das offene Fenster wie eine kalte Dusche in das Zimmer. Aus einem der deponierten Kleidersäcke nahm er sich eine ausrangierte Winterjacke. Dann stellte er das Teleskop in die parallaktische Grundposition, löste die Klemmungen und brachte den Tubus in verschiedene Positionen, um ein Gefühl für den Umgang mit den beiden Bewegungsachsen zu entwickeln. Durch das Sucherfernrohr spähend richtete er den Tubus schließlich auf den Mond aus. Die gleißende Mondoberfläche blendete ihn beim ersten Sichtversuch. Er fand im Karton eine Schachtel mit einem kleinen, planparallel geschliffenen und gedämpften Glas – ein Filter, den er in das Okular einschrauben konnte. Mit einer Mondkarte aus der Pappkiste legte er los. Schon der erste Blick überwältigte ihn – die Dämmerungszone lief schräg über die riesige Ebene des Mare Imbrium, südlich davon ließ das horizontal einfallende Licht den aufgeworfenen Rand des Kopernikus-Kraters grell aufleuchten. Auflösung und Detailreichtum waren unglaublich groß, Rünz hätte sich nicht über eine Sichtung des Golfballes gewundert, den Alan Shepard bei der Apollo-14-Mission auf dem Fra-Mauro-Hochland geschlagen hatte.
Der Kommissar hatte Feuer gefangen, er wollte Objekte weit jenseits des Sonnensystems und der Heimatgalaxie ins Visier nehmen. Er griff in den Karton und nahm das elektronische Steuerungsmodul und die Antriebseinheit heraus. Stadelbauer hatte ihm empfohlen, zum Einstieg alle Positionierungen manuell vorzunehmen, um ein Grundverständnis für die Geometrie des nächtlichen Sternenhimmels zu entwickeln. Aber Geduld gehörte nicht zu Rünz’ Stärken. Er fixierte die Geräte an der Montierung und sorgte für Stromversorgung. Nach wenigen Minuten war die kompakte Computereinheit initialisiert, ein elektronischer Detektor scannte das Himmelszelt ab, verglich die Aufnahme mit den gespeicherten Sternenkarten, und präzise kleine Servomotoren richteten leise surrend das Teleskop aus. In der Kladde fand er eine abgegriffene, kreisrunde Sternenkarte, ein kompliziertes System drehbarer Skalen und Zeiger auf einem Abbild des Himmelsgewölbes. Fast eine Stunde brütete er über der Karte, bis er das Zusammenspiel von Stundenwinkel, astronomischer und bürgerlicher Dämmerung, mittlerer Ortszeit und Rektaszension intellektuell durchdrungen hatte, die Objekte des winterlichen Sternenhimmels identifizieren und das Teleskop entsprechend programmieren konnte.
Dann vergaß er Raum und Zeit bei seiner Entdeckungstour durch Kugelsternhaufen, Gasnebel, Sonnen und Spiralgalaxien des winterlichen Südhimmels – Orion, der Himmelsstürmer, Aldebaran und Beteigeuze, beide rötlich schimmernd, der gleißende Sirius, Castor und Pollux, die Köpfe der Zwillinge und die Plejaden. Gegen sechs Uhr morgens überstrahlte die erste Morgendämmerung das Sternenlicht, er schloss das Fenster und setzte sich auf den Boden, frierend, erschöpft, müde und berauscht von seinen Entdeckungen. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er eine leise Ahnung von der schier atemberaubenden Größe des Universums bekommen. Demut erfasste ihn und die Erkenntnis, die jeden durchdrang, der sich in seinem Leben einmal ernsthaft mit Astronomie beschäftigte – dort draußen existierte Leben, es hatte schon vor Jahrmillionen existiert und würde noch in Millionen von Jahren existieren. Der Kontakt war – wie Stadelbauer gesagt hatte – letztendlich keine Frage des Glaubens, sondern eine der Statistik und der Wahrscheinlichkeit. Die Vorstellung, ein atomarer Partikel in einer annähernd unendlich großen Welt zu sein, versöhnte ihn ein wenig mit seiner Vergänglichkeit. Für dieses ergreifende Emotionsamalgam, so musste er sich eingestehen, gab es nur eine Bezeichnung – Spiritualität.
Er ging ins Bad und schüttete sich Wasser ins Gesicht. Wenn das so weiterging, würde er noch sonntags in die Kirche gehen und seiner Frau Liebeserklärungen machen. Irgendwie musste er wieder zu Verstand kommen.
Kaum eine Stunde Schlaf blieb ihm, dann summte der Wecker. Er wachte auf, allein im Bett, seine
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