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Akustikkammer für die extreme Lärmbelastung beim Start –, und zwischendurch unzählige Integritätsprüfungen und Systemchecks. Und immer mit dabei: der dicke Italiener. Das letzte Foto von Rossi auf dem alten Kontinent stammte vom 13. September 2002. Er stand auf einem Vorfeld des Flughafens Schiphol an der Laderampe einer gigantischen Antonov 124, deren weit geöffnete Bugklappe die ESA-Container mit der Sonde schluckte wie ein Walhai einen Planktonschwarm. Damit war die europäische Kindheit und Jugend der Sonde abgeschlossen, Rünz erwartete nicht, Rossi noch einmal auf den Bildserien über die Startvorbereitungen auf dem Kourou Spaceport in Französisch-Guayana zu sehen. Die letzten Seiten der Mappe ging er mit dem Daumenkino durch und wurde dann doch noch einmal fündig. 12. Januar 2003, wenige Stunden vor dem geplanten Start. Ein PR-Foto aus der Mediathek des Schweizer Unternehmens Contraves Space, die für die Ariane-V-Raketen schützende Nutzlastverkleidungen entwickelte, gegen thermische, akustische und aerodynamische Einflüsse in der Startphase. Rossi stand im Bâtiment d’Assemblage Final auf einem Stahlgerüst in 50 Metern Höhe an der Spitze der Rakete, sein Kopf steckte in einer kreisrunden Wartungsluke, in den Händen eine kleine Fernsteuerung. Anderthalb Meter unter ihm ragten die Füße eines zweiten Mitarbeiters aus einem weiteren Bullauge, dieser Techniker lag offensichtlich auf einer steuerbaren Spezialliege und erledigte im Inneren der Raketenspitze letzte Startvorbereitungen. Rossi konnte ihn mit seinen Joysticks so behutsam in die filigrane Technik einführen wie der Proktologe das Endoskop in den Enddarm. Rünz las die Bildunterschrift:
›Technicians Arming Harpoon‹ *
Ein klarer Fall für das Internet-Wörterbuch Englisch-Deutsch. ›To arm‹ – armieren, laden, aufrüsten, ausrüsten, scharf machen. ›Harpoon‹ – die Harpune. ›Techniker beim Scharfmachen der Harpune‹. Grandios. Das klang in diesem Kontext ungefähr so plausibel wie ›Techniker bestreichen die Sonnensegel mit Margarine‹. Rünz mochte sich ein Leben ohne Internet gar nicht mehr vorstellen. Jemand klopfte an die Wohnungstür.
* * *
»Hören Sie, das geht nicht, meine Frau ist nicht da. Ich weiß nicht, was Sie mit ihr ausgemacht haben, aber …«
»Es geht doch nur um ein paar Minuten, Ihre Frau hat das ganz sicher nicht vergessen und wird jeden Moment kommen .«
Rünz fragte sich, was für eine Sorte Termin das wohl sein mochte, zu dem seine Nachbarin ihren Balg auf keinen Fall mitnehmen konnte.
»Außerdem kennen Sie doch meinen kleinen Oskar«, sie streichelte dem kleinen Oskar über den Kopf, »… und du kennst den Herrn Rünz, nicht wahr, mein Liebling ?«
Oskar schwieg.
Rünz suchte verzweifelt nach einem Ausstiegsszenario. Wäre er nur einfach liegen geblieben! Seine Frau würde sicher bald nach Hause kommen, wenn sie es mit ihr vereinbart hatte. Aber aus der Paartherapie wusste der Kommissar, wie sich Minuten zuweilen dehnen konnten.
»Also gut, komm rein«, knurrte er.
Die Nachbarin gab Oskar einen Kuss, schob ihn über die Schwelle, bedankte und verabschiedete sich. Rünz schloss die Tür hinter ihr, darauf bedacht, ausreichend Sicherheitsabstand zu dem kleinen Infektionsherd zu halten.
»Am besten bleibst du da erst mal stehen .«
Oskar blieb stehen. Er trug einen karierten Flanellpyjama, die viel zu großen Filzpantoffeln seiner Mutter und unter dem Arm eine riesige, zerrupfte Stoffschildkröte.
Rünz suchte hektisch nach dem Telefon und wählte die Mobilnummer seiner Frau – Mailbox. Er sprach ihr einen wütenden Kommentar drauf, legte das Gerät beiseite und schaute den Kleinen an. War er nicht etwas blass um die Nase?
»Ist dir …«, Rünz zögerte, als könnte es wahr werden, weil er es aussprach, »… schlecht? Musst du aufs Klo ?«
Oskar schwieg und schüttelte den Kopf.
Rünz hatte wenig Erfahrung mit Kindern, er schätzte sein Alter auf irgendwo zwischen zwei und sechs, jedenfalls war der Kleine mit einiger Sicherheit schon abgestillt, davon konnte er ausgehen. Oskar schien sich dem Anschein nach in einer stabilen seelischen Verfassung zu befinden, aber bei Kindern konnte die Stimmung schnell umschlagen.
»Willst du etwas trinken oder essen ?«
Oskar schüttelte den Kopf.
»Ist auch besser so, sonst musst du noch aufs Klo«, sagte Rünz zustimmend.
Eine Weile standen beide schweigend im Flur, der Erwachsene dachte nach, das Kind
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