Binde Deinen Karren an Einen Stern
Wertsystem unterscheiden. Und zwar sind ihnen Ideale und Grundsätze deutlich wichtiger, dagegen Anerkennung sowie Einkommen und Besitz erheblich weniger wichtig … Es sollte zu denken geben, dass sich Alkoholiker, die sich erfolgreich gegen die Sucht zu behaupten vermochten, also am ehesten dadurch auszuzeichnen scheinen, dass sie ihr Leben nach bestimmten Idealen ausrichten.“
Diese Ergebnisse geben in der Tat zu denken. Wer ein persönliches Wertsystem etabliert und sein Leben nach (ethischen?) Grundsätzen und Idealen (neu) ausrichtet, verlagert das Schwergewicht auf seine geistige Dimension. Das befähigt ihn, sich aus der Sklaverei ererbter oder erworbener Charakterdefizite zu befreien, sogar aus so mächtigen Klauen wie der einer Suchtdisposition. Kein Wunder, die „Saiten“ des Menschseins sind wieder gespannt, sie schwingen wieder im Rhythmus des jeweiligen Sinnanrufes, sie bringen wieder die ureigene Melodik hervor, die einer einzigartigen und einmaligen Person entspricht.
Das Alkoholproblem schafft unglaublich viel Leid, für die Betroffenen, für die Angehörigen, für Staat und Gesellschaft. Dabei steht am Anfang ein selbst erzeugtes und daher ein unnötiges Übel, was man von zahlreichen anderen Übeln nicht sagen kann. Täglich hören wir in den Nachrichten nicht nur von menschengestrickten Grausamkeiten und Wahnsinnstaten, sondern auch von Härten des Schicksals, von Epidemien, Naturkatastrophen und ähnlichen Plagen, die sich über Unschuldige ergießen. Wo bleibt da ein höherer Sinn? Theologisch: Warum lässt Gott das Leiden zu? Viktor E. Frankl kannte diese Frage – besser: diesen Aufschrei aus seiner KZ-Erfahrung zur Genüge und wagte (in seinem Buch „Ärztliche Seelsorge“, Deuticke, Wien, 11. Auflage 2005) eine Stellungnahme dazu:
„Es mag sein, dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier letztlich nicht so sehr darin besteht, dass das Tier Instinkte hat und der Mensch Intelligenz; vielmehr wäre die eigentliche Unterscheidung zwischen Mensch und Tier darin gelegen, dass die Intelligenz des Menschen so hoch ist, dass der Mensch sogar auch noch eines kann: einsehen, dass es eine Weisheit, und zwar von einem die seinige überragenden Range – eine übermenschliche Weisheit – geben muss, die ihm die Vernunft und den Tieren die Instinkte eingepflanzt hat … Wollen wir das Verhältnis von tierischer Umwelt zur Welt des Menschen und von dieser wieder zu einer Überwelt bestimmen, so bietet sich uns als ein Gleichnis der Goldene Schnitt an. Ihm zufolge verhält sich der kleinere Teil zum größeren so wie der größere zum Ganzen. Nehmen wir das Beispiel eines Affen, dem schmerzhafte Injektionen gegeben werden, um ein Serum zu gewinnen. Vermöchte der Affe jemals zu begreifen, warum er leiden muss? Aus seiner Umwelt heraus ist er außerstande, den Überlegungen des Menschen zu folgen, der ihn in seine Experimente einspannt; denn die menschliche Welt, eine Welt des Sinnes und der Werte, ist ihm nicht zugänglich. An sie reicht er nicht heran, in ihre Dimension langt er nicht hinein. Aber müssen wir nicht annehmen, dass die menschliche Welt selber und ihrerseits überhöht wird von einer nun wieder dem Menschen nicht zugänglichen Welt, deren Sinn, deren Übersinn allein seinem Leiden erst den Sinn zu geben imstande wäre?“
Das Fazit daraus lautet: Bleiben wir bescheiden. Fragen wir nicht und interpretieren wir nicht in eine Überwelt hinein, die uns verschlossen ist und aus der uns keinerlei Erklärung entgegenhallt – wahrscheinlich nicht, weil es keine gäbe (?), sondern weil wir sie nicht verstünden, wie der gestochene Affe keine menschlichen Argumente verstünde. Bleiben wir bescheiden. Auch wir Psychotherapeuten und Nothelfer. Glücklicherweise können wir einige Störungen beheben und ein paar psychische Krankheiten heilen, aber das „Heil“ bringen können wir nicht. Wenn es überhaupt etwas in unserer Welt gibt, das solches vermag, dann ist es das (blinde) Vertrauen darauf, dass diese Welt nicht alles ist, sondern dass sie eingebettet ist in einen umfassenden Übersinn, in dem all unsere ungelösten Fragen ihre Antwort finden.
Der Mensch und das Leid
Im Jahr 1980 erschien ein bemerkenswerter Aufsatz von Cynthia Gordon, Professorin an der La-Verne-Universität in Kalifornien, zum Thema: „Die Entwertung des Leidens in der gegenwärtigen Psychotherapie“ (abgedruckt in „Analecta Frankliana“, hrsg. von Sandra Wawrytko, Institute of Logotherapy Press, Berkeley,
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