Binde Deinen Karren an Einen Stern
Möglichkeiten, die in ihrer Hand und Verfügungsgewalt lagen und über deren Verlebendigung oder Absterben sie selbst entscheiden konnte und musste – Tag für Tag. In einem nächsten Schritt wären wir in das Auswahlverfahren eingestiegen. Bei der Frage: „Welche Möglichkeiten, die ich noch habe, sollen leben dürfen, weil sie wert sind, verwirklicht zu werden? Und welche meiner Möglichkeiten lasse ich bewusst vergehen, weil sie mir missfallen?“, deren Beantwortung die Frau sich hätte abringen müssen, hätte ich sie vorsichtig begleitet. Sobald ihre Antworten darauf festgestanden hätten, hätte ich sie motiviert, das Entschiedene umzusetzen, und hätte sie bei der konkreten Durchführung ihrer neu gewonnenen Vorhaben gestützt.
Überlegen wir jetzt, wie ein guter Seelsorger vorgegangen wäre, hätte sich die Frau an ihn gewandt. Ohne fachfremd dilettieren zu wollen, meine ich, er hätte bei der Verbitterung der Frau angesetzt. Warum verbittert sein? Sie ist nicht einsam, sie ist nie allein: Gott ist mit ihr. Sie steht niemals am „Abstellgleis“: Gott braucht sie. Und sollte niemand mehr etwas von ihr wissen wollen: Gott liebt sie. Was fehlt ihr dann? Hat
er
ihr nicht ein langes Leben geschenkt, tüchtige Kinder und vieles mehr? Hat
er
sie nicht in manch kritischem Augenblick beschützt? Hat
er
ihr nicht ein gemütliches Altwerden mit Wohnung und Altersversorgung gewährt? Wie könnte sie
ihm
all das danken? Und: Will sie sich dem, wozu
er
sie noch braucht, wirklich verweigern? Nein? Na dann, eins, zwei drei, los, auf die Suche! Wie kann sie sich bedanken? Wofür ist sie von Gott eingeladen, es zu tun? Wofür könnte eine schwache, alte Frau wie sie noch wichtig sein in der Welt?
Man sieht, wie ideal die Seelenheilkunde (speziell nach Frankl) und die Seelsorge zu kombinieren ist. Die Wertorientierung verknüpft beide miteinander. Egal, in welche Not ein Mensch geraten mag, sobald und solange er in Freiheit wertorientierte Entscheidungen trifft, wird sein „Seelenheil“ nicht gefährdet sein.
Die Kraft des Geistigen
Es ist unbezweifelbar, dass die leibliche und die psychische Dimension des Menschen krankheitsanfällig sind. Jeder von uns befindet sich jederzeit irgendwo am Kontinuum zwischen körperlicher Robustheit und Siechtum, zwischen psychischer Normalität und Entgleisung. Wie steht es diesbezüglich mit der geistigen Dimension des Menschen? Eine provokante Frage. In Übereinstimmung mit dem althergebrachten Seelenbegriff definierte Frankl den
Nous
als „jenseits von Gesundheit und Krankheit“ – Geistiges könne nicht krank werden, könne weder gezeugt werden noch sterben. „Geistiges ist im Raume nirgends, also auch nicht im Grabe“, so Frankl. Er verglich den menschlichen Geist mit der Musik, die auch nicht „in der Geige“ ist und nicht mit dem Zerbrechen einer Geige stirbt. Körper und Psyche in ihrer psychosomatischen und somatopsychischen Verwobenheit seien gleichsam wie die Geige das „Instrument“ des menschlichen Geistes, das beschädigt werden kann, das kaputtgehen und damit seinen Dienst aufkündigen kann. Was aber nicht zwangsläufig bedeuten muss, dass die geistige Person, der sie gedient haben, mit ausgelöscht sei. Schließt man sich dieser Sichtweise an, zeigt sich bezüglich der geistigen Dimension ein von den beiden anderen Dimensionen unterschiedliches Kontinuum, nämlich das einer größeren oder kleineren Verfügbarkeit des
Nous.
So kann die Verfügbarkeit des Geistigen, aufgrund von Hirnschäden, Psychosen, Altersdemenz u. Ä. beeinträchtigt sein bis hin zur totalen Blockade. Um unser Gleichnis nochmals zu bemühen: Während eine Geige intakt oder weniger intakt ist (= der menschliche Organismus gesund oder krank ist), kann die „immer intakte“ Musik gut oder weniger gut – oder gar nicht mehr – erklingen (das heißt die unversehrte/unversehrbare Geistigkeit des Menschen kann voll oder weniger – oder gar nicht mehr – verfügbar sein).
Ein faszinierendes Bild, dem eine beachtliche Option innewohnt: Der virtuose Geiger entlockt selbst einer schlechten Geige noch hübsche Klänge! (Analog bringt der miserable Geiger selbst auf einer Stradivari-Geige nichts Hörenswertes hervor.) Wir sehen, die Schönheit einer Melodie muss mit der Schönheit eines Instrumentes nicht korrelieren! Ein überzeugendes Beispiel dazu hat uns Johann Wolfgang von Goethe überliefert. Der Dichter musste viele ernsthafte Erkrankungen erdulden, ließ sich davon jedoch in seinem
Weitere Kostenlose Bücher