Binde Deinen Karren an Einen Stern
Machthierarchie höher steht als der Angeklagte. So ähnlich, meinte Frankl, sollten wir uns die Hierarchie zwischen
Nous
und
Psyche
vorstellen. Die
Psyche
ist gewaltig, hat den riesig großen unbewussten Teil hinter sich, und noch dazu Jahrtausende alte Prägungen der Spezies. Der
Nous
dagegen ist ein Hauch, aber eben ein göttlicher …
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen bedachter und besser leben, wenn sie um den „noo-psychischen Antagonismus“ wissen. Sie tragen ein würdigeres Selbstbild in sich. Sie handeln weniger automatisch und mehr authentisch. Sie fühlen sich freier in ihren Entscheidungen und geneigter, sich richtig zu entscheiden. Und sie haben weniger Ausreden für ihre Fehltritte, was nur gut ist. Denn so tragen gerade unsere Irrnisse und Wirrnisse dazu bei, unsere Hoffnung auf Erlösung am Brennen zu halten …
Psychotherapie und Seelsorge
Ziel der Seelsorge ist es, einfach gesagt, zu einem gottgefälligen Leben hinzuführen. Ziel der Psychotherapie ist es, zu einem menschenzuträglichen Leben hinzuführen. Nun: Wir können ruhig die Behauptung wagen, dass ein menschenzuträgliches Leben ein gottgefälliges
ist
– und umgekehrt. Sehen wir uns ein Beispiel an.
Unter meinen Hausnachbarinnen gab es einmal zwei alleinstehende Frauen im Alter von 70 Jahren. Beide waren verwitwet und hatten erwachsene Kinder, die weggezogen und beruflich eingespannt waren, weshalb sie sich nur selten blicken ließen. Beide Frauen bekamen eine bescheidene Rente, hatten ihre unvermeidlichen Altersbeschwerden und fühlten sich ein wenig aufs „Abstellgleis“ geschoben. Das Eiltempo der gegenwärtigen Zeit mit ihren elektronischen Errungenschaften war ihnen suspekt.
Soweit ein vergleichbarer „schicksalhafter“ Bereich. Dennoch reagierten beide Frauen auf unterschiedliche Art darauf. Die eine verbiss sich in die von ihr wahrgenommenen Unfreiheiten. Sie puppte sich geradezu in ihnen ein. Über ihre Einsamkeit geriet sie in Verbitterung und verkroch sich noch mehr in ihren vier Wänden. So verlor sie die letzten mitmenschlichen Kontakte, die sie noch hatte. Ihr „Abstellgleis-Gefühl“ ließ sie in Streik treten: Wenn keiner sie mehr brauchte, dann sollte auch keiner mehr etwas von ihr empfangen. Kein Gruß, kein Brief ging von ihr aus, kein Lächeln, keine Freundlichkeit. Man hielt die Alte für verschroben, zuckte die Achseln und mied sie. Das Schicksal hatte ihr alles genommen – so sah es aus. Ich traf sie gelegentlich im Hausflur und versuchte, ihre seelische Einigelung zu sprengen, vergebens.
Die zweite Frau machte vom „noopsychischen Antagonismus“ Gebrauch. Einsamkeitsgefühle? Verbitterung? Abstellgleis? Sie erhob sich geistig darüber und wandte sich den ihr verbliebenen Freiräumen zu. Da ihre Kinder sie nicht mehr benötigten, betätigte sie sich sozial, indem sie einen Besuchsdienst im örtlichen Sehbehindertenheim antrat. Bald freuten sich viele Leute auf ihr Kommen. Sie weitete ihr Angebot aus, erledigte Botengänge, besorgte kleine Modeartikel, frisierte Haare, besserte Kleider aus usw. Aus ihren Besuchen heraus entwickelten sich stabile Freundschaften, auch mit dem Pflegepersonal. Da manche Heimbewohner Tiere liebten, schaffte sie sich einen Hund an, schulte ihn und nahm ihn zu ihren Besuchen mit. Der Hund animierte sie zu langen Spaziergängen in Wald und Flur, was ihrer Gesundheit gut tat. Auf einem solchen Ausflug traf sie einen älteren Herrn, der zu ihrem regelmäßigen Begleiter wurde. Da er ein Fan der Volksmusik war, lud er sie zu Konzerten dieses Genres ein. Auf ihre Vermittlung hin spielte er von Zeit zu Zeit den Heimbewohnern auf seinem Akkordeon etwas vor, was diese begeisterte. Die zweite Frau führte ein rundum erfülltes Leben, und wenn ich sie im Hausflur traf, beglückwünschte ich sie dazu.
Das Beispiel verdeutlicht, dass das Elend der ersten Frau nicht hätte sein müssen. Wie aber hätte man ihr helfen können? Hätte sie mein therapeutisches Angebot angenommen, hätte ich ihre Aufmerksamkeit sogleich auf die Freiräume gelenkt, die ihr neben den schicksalhaften Faktoren immer noch offen standen. Auch wäre die Verantwortung zur Sprache gekommen, die sie für die Nutzung ihrer Freiräume trug. An diesem Erkenntnispunkt angelangt, hätte ich gemeinsam mit ihr erkundet,
was
ihr eigentlich alles offen stand, Kluges und Blödes, Soziales und Asoziales, Gesundheit Erhaltendes und Gesundheit Ruinierendes, Geniales und Banales, kurzum, die breite Palette sämtlicher
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