Bindung und Sucht
»Unterstellt wird«, so Vogt (1997, S. 139), »daß der Entwicklungsprozeß für Männer und Frauen idealtypisch betrachtet gleich abläuft, daß das Geschlecht also unerheblich ist, wenn es um die Beschreibung und Diagnostik von Sucht geht.«
Geschlechtstypische Polarisierungen, Biologisierungen (vgl. dazu Scholz 2010) geschlechtssolidarisierende Überidentifikationen und Gegenübertragungsreaktionen, die Individualisierung struktureller Machtphänomene und umgekehrt die Politisierung originär individueller Konflikte als »Therapie- und Beratungsfehler« sind im angloamerikanischen Raum seit langem als sogenannter »gender trouble« bekannt, besprochen und werden erforscht. Unter der Begrifflichkeit fasst man Verwirrungen, die »aufgrund des gleichen oder des anderen Geschlechts der beteiligten PartnerInnen … zu kurzschlüssigen, schnellen Einverständnissen oder zu … Missverständnissen führen« (Tatschmurat 2004, S. 234). Eine ausführliche Thematisierung der Geschlechterrollen in Beratungskonstellationen beim Thema Sucht in Deutschland findet sich z. B. bei Vogt (1997, 2004).
Gender ist dabei nur eine der Diskriminierungsmöglichkeiten im komplexen Gefüge intersektionaler Diskriminierungsformen. Unter Diversity wird die »Anerkennung der Vielfalt und Verschiedenheit unter Menschen verstanden«(Czollek & Perko 2011). Dabei ist das Phänomen der Diskriminierung nicht eindimensional zu begreifen, sondern »intersektional«, als ein Feld der Überschneidungen verschiedener Diskriminierungs- und Gewaltformen auf individueller, institutioneller und kultureller Ebene (ebd.). Es ist also generell anzuerkennen, dass es eine Hierarchie in unseren Köpfen gibt, oder genauer: viele Hierarchien. Sexismus findet sich dabei mit anderen gesellschaftlich verankerten Machtverhältnissen wie Homophobie, Ethnozentrismus, Antisemitismus etc. »im gleichen Boot«. Rommelspacher (1992) bezeichnet dies als eine innere Hierarchie, die unsere Wahrnehmung und unser Verhalten strukturiert.
Falsche Zuschreibungen und einseitige Problemdefinitionen können daher leicht nicht nur an der Realität der Klientinnen und Klienten, sondern vor allem an einer angemessenen Wirkungschance der Behandlung vorbeigehen. Die Forschung zeigt negative Auswirkungen bei Therapeutinnen und Therapeuten, Beraterinnen und Beratern, die »rassistische, homophobe bzw. elitäre Einstellungen und Verhaltensweisen« zeigen und keine dialogische Grundhaltung an den Tag legen (Rommelspacher & Wachendorfer 2008, S. 1350; vgl. auch Comas-Diaz 2006), auf. Es erstaunt daher nicht, dass es auch Unterschiede in der Inanspruchnahme und dem Behandlungserfolg bei Frauen und Männern gibt (Blain et al. 2010). In der Regel wird dabei festgestellt, dass Frauen stärker von Angeboten profitieren, sie aber auch aktiver in Anspruch nehmen (Drapalski et al. 2009; vgl. auch Strauß et al. 2004). Frauen berichten auch von mehr posttraumatischen Wachstumsprozessen und einem hilfreichen Nutzen von sozialen Unterstützungssettings (Swickert & Hittner 2009); dieses Ergebnis wurde kürzlich sogar durch eine Metaanalyse nachgewiesen (Vishnevsky et al. 2010).
In anderen Überblicksstudien scheinen diese Ergebnisse jedoch nur teilweise gesichert (Blain et al. 2010), obgleich insbesondere mädchen- und frauenspezifische Einrichtungen in ihrer langen Tradition im Gewaltbereich in Bezug auf Traumata große Erfolge aufweisen können (Covington 2009; Hartwig 2005; Messina et al. 2010; vgl. auch Teunißen & Engels 2006). Auch männerspezifische Behandlungskonzepte bewähren sich mehr und mehr (Spilles & Weidig 2004). Der Anspruch, alles im Blick zu haben, ist daher hoch. Bereits die Behandlung von Trauma und Sucht stellt Professionelle vor große Herausforderungen im Hinblick auf die Komplexität der Aufgabe und auf Fähigkeiten, widersprüchliche Interventionsstrategien zu vereinen (Schäfer et al. 2004; Teunißen & Engels 2009). Manchmal kommt es auch zu Überidentifikationen. Ein emotional stark besetztes und nach wie vor ungelöstes Thema sind in diesem Kontext auch geschlechtersensible Behandlungskonstellationen. Die einst von der Frauenbewegung etablierte Regel, Frauen könnten Frauen besser beraten, lässt sich in dieserEindeutigkeit nicht durchhalten (vgl. z. B. Goldner 2003; zu einer ausführlichen Thematisierung der Geschlechterrollen in Beratungskonstellationen bei Sucht siehe Vogt 1997).
Die Anforderung, Diversity-Phänomene zu berücksichtigen, verkompliziert die theoretische
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