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Bindung und Sucht

Bindung und Sucht

Titel: Bindung und Sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Heinz Brisch
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und Ohnmachtsgefühle fanden darin allerdings keinen Platz und führten zu dissoziativen Zuständen, Schlaf- und Konzentrationsstörungensowie Autoaggressionen: »Und was ich auch weiß, ist, dass ich aus mir rausgehen konnte.« Die auf diese Weise erlernte Fühllosigkeit entwickelte sich bereits im Kindesalter zu einer schweren Depressivität und Todessehnsucht, eine Grundstimmung, die sich – unterbrochen von aggressiven Durchbrüchen – bis zum Zeitpunkt der bewussten Bearbeitung der Gewalterfahrung fortsetzte.
    Im Alter von 18 Jahren wurde er von einem Tramper vergewaltigt. Die Jahre danach waren geprägt von radikalpolitischen Aktivitäten – jeweils im Namen linker Ideologien und an der Seite von Frauen mit eigenen Gewalterfahrungen. Anstelle der Depressionen kam es immer mehr zu aggressiven Durchbrüchen und Drogenexzessen: »Ich hab irgendwie alle Drogen bis Heroin ausprobiert, nur um mich kaputtzumachen.« Nach einem Suizidversuch gelang es ihm gerade noch rechtzeitig, Hilfe zu suchen. Im Alter von 25 Jahren schließlich bekannte sich Herr Belgard erstmals öffentlich zu seiner Vergewaltigung und erlitt anschließend einen psychischen Zusammenbruch: »Es gab eine Diskussion über einen Vergewaltigungsfall in der linken Szene, und an dem Abend brach das dann auf, da irgendwie mehrmals gesagt wurde, dass Männer da eigentlich keine Stellung nehmen können, weil sie keine eigenen Erfahrungen dazu haben . . . Und dann musste einer plötzlich heulen und meinte, er hätte da schon Erfahrungen . . . Und er heulte dann, und die anderen Männer, die da waren, waren völlig hilflos damit, und einer meinte dann plötzlich, das sei ja jetzt nicht Thema hier, das sei ja toll, dass er das irgendwie erzählt. Hat es total abgebügelt, und ich merkte so, wie’s mir ganz schlecht wurde. Und da kam mir die Erinnerung hoch . . . Und ich habe mich zu Wort gemeldet und hab gemeint, dass ich das Scheiße finde, wie das abgebügelt wird von ihm, und dass ich halt auch Gewalterfahrungen habe. In dem Bereich. Und dann wurd’s mir ganz heiß und kalt, und ich musste heulen, und . . . es hat sich alles um mich gedreht.«
    Heute betrachtet Herr Belgard die Krisensituation als Eingangserlebnis zur Veränderung seiner Lebenssituation: »Das kam dann alles hoch, und so schrecklich das war, es war auf der andern Seite plötzlich ein Schlüssel.« Je mehr Einsicht Herr Belgard in die Ursprünge seiner Aggressionen gewann, umso mehr Zugang bekam er auch zu den Gefühlen der Opfer der linken Gewalt. Als entscheidende Szene beschreibt er eine konfrontative Begegnung mit einem Polizisten während einer Demonstration, in der er plötzlich erkannte, wie hilflos und verängstigt sein Gegenüber war – nach diesem Erlebnis bereitete er den Ausstieg aus der Gewaltszene vor.
    In verschiedenen Therapieversuchen machte Herr Belgard sehr unterschiedliche Erfahrungen. »Es gibt einfach viele Leute, die machen Experimente.« Gegen Ende der Therapie machte sich Herr Belgard auf die Suche nach einer Selbsthilfegruppe, die ihn seiner Ansicht nach entscheidend vorangebracht hat: »Dass ich auf einmal mitbekomme, da sind Männer . . . Ich bin nicht allein, wir haben ähnliche . . . Probleme . . .Also, auch das stößt unglaublich viel bei mir an . . ., weil es was anderes ist als in der Therapie, es ist ein Schritt weiter raus.«
    Angefangen mit Alternativerfahrungen im Freundeskreis bis hin zu professionellen Hilfen und der Selbsthilfegruppe boten sich für Herrn Belgard durch die sekundär entstandenen positiven Bindungsmöglichkeiten schrittweise neue Perspektiven für die Bewältigung der sexuellen Gewalterfahrung. Die Veränderung von einer starken Isolierung hin zu einer relativ guten sozialen Einbettung, zu einem guten sozialen Netz, das von der Partnerschaft ebenso getragen wird wie von zahlreichen Freundinnen und Freunden, benennt er selbst als entscheidenden Faktor seines Heilungsprozesses und knüpft dabei in seiner Erinnerung an die frühen Erfahrungen mit der Großmutter an.
Gender- und diversitysensibel behandeln
    Die Erfahrung, dass geschlechtshomogene Selbsthilfegruppen eine größere Chance bieten, einen frauen- oder männerspezifischen Einstieg in die schwierige Problematik zu schaffen und solidarische Erfahrungen zu machen, teilen die beiden Interviewpartner mit vielen anderen Betroffenen. In Deutschland fassen Erkenntnisse über Gender und Diversity in der Behandlungslandschaft tatsächlich nur langsam Fuß 3 (Scheffler 2010).

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