Bindung und Sucht
dahin hatte sie mehrere Versuche gemacht, sich zu öffnen; es war ihr jedoch nie Glauben geschenkt worden.
Frau Cirillo erlebt sich als tief geprägt von der Gewalterfahrung. An die Kindheit hat sie nur wenige Erinnerungen und schildert einen stark dissoziativ-vermeidenden Umgang mit Gefühlen und Situationen, die mit der Gewalterfahrung in Verbindung stehen. Isolation und Depressionen sind die Folge. Nach einem Suizidversuch begleitete eine Lehrerin Frau Cirillo auf die Intensivstation: »Ich war mehrfach stationär, ich war mehrfach intensiv gelegen und . . . es war eine Zeit von . . . sehr viel Leiden«. Im Alter von 19 Jahren kam es zu einer Reviktimisierung in Form einer Vergewaltigung durch einen flüchtigen Bekannten. »Ich kam mir vor wie aufgezogen an einer Schnur . . . ich habe mich danach irgendwie bodenlos geschämt . . . auch so dieses Gefühl, es ihm so leicht gemacht zu haben«.
Die Vergewaltigung stürzte sie erneut in eine Phase schwerer Autoaggressivität und Destruktivität: »Ich habe dann versucht, mich so irgendwie durchs Leben zu retten . . . und habe im Studium ganz gut funktioniert, aber ich hatte immer so das Gefühl, das ist alles sehr tönern, es braucht nur einen kleinen Hammerschlag, und alles zerbricht . . . Und irgendwann fing das an, dass konkrete Erinnerungen hochkamen . . . Ich hab das in der Anfangszeit versucht, mit Alkohol zu bekämpfen, weil ich nicht wusste, wohin mit dem Schmerz . . . Es war eigentlich nochmals so ein erweitertes Drama aus der Jugendzeit, mit viel Selbstverletzung, nicht nur über Alkohol, sondern so auch autoaggressiv.«
In der Psychiatrie erlebte Frau Cirillo viel Ignoranz. Dies hemmte zunächst ihren Zugang zum professionellen Feld. Schließlich bekam sie Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe. Hier fand sie erstmals die Möglichkeit zum Austausch mit Frauen, die mitähnlicher Symptomatik und Vergangenheit versuchten, ihr Leben zu managen: »Ich hatte erstmals das Gefühl, etwas in der Hand zu haben, so einen Faden von der eigenen Geschichte, der mir immer fehlte . . . Und dann habe ich mich mit Hilfe dieser Selbsthilfegruppe mit mir auseinandergesetzt . . . mit meinen Träumen und Erinnerungen.« Seither erfährt sie den Umgang mit der Gewalterfahrung als einen kontinuierlichen Auseinandersetzungsprozess, in dem es mehr und mehr gelingt, Gefühlsüberflutungen zu fassen und zu rahmen. »Was ich verbal nicht formulieren konnte, konnte ich eher schriftlich transkribieren, und wenn es dann erst mal geschrieben war, dann ließ es sich auch leichter mal verbal äußern.«
Die Auseinandersetzung und behutsame Selbstfindung im Rahmen der Selbsthilfegruppe betrachtet sie im Rückblick als die wichtigste Verarbeitungshilfe, um ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen. »Das war für mich eine ziemlich große Überraschung . . ., es war ein echter Weg . . . Für andere könnt’ ich immer nur raten, sich auf alle Fälle mit einer Selbsthilfegruppe zu versuchen, weil einfach dieses solidarische Gefühl des Aufgehobenseins und ähnliche Erinnerungen zu haben . . . und das dann vor allen Dingen auch in einem Freiraum formulieren zu dürfen, wo man geschützt ist.«
Heute hat Frau Cirillo einen Weg gefunden, mit den erlebten Gewalterfahrungen umzugehen. Ein dicht gewebtes soziales Netz bietet Unterstützung in schwierigen Lebenssituationen. Nach der positiven Erfahrung in der Selbsthilfegruppe konnte sie auch von einem therapeutischen Angebot profitieren. Die Verarbeitung der Gewalterfahrung ist ihrer Ansicht nach zwar nicht beendet und wirft immer wieder neue Fragen auf, aber heute kann sie sich ihnen mit genügend Rückendeckung angemessen stellen, ohne dass sich die Suchtproblematik neu aktiviert.
Herr Belgard ist 31 Jahre alt, von Beruf Rettungsassistent. Er wuchs mit seinem jüngeren Bruder bei den leiblichen Eltern in einer Großstadt auf. Der Vater war beruflich viel unterwegs. Als einzige schützende Beziehungsperson in seinem Umfeld benennt er seine Großmutter. Herr Belgard wurde vom siebten bis zum 15. Lebensjahr von seiner Mutter schwer sexuell misshandelt. Die Erinnerung an früher, sagt er, war »ein großes schwarzes Loch, so ein ganz bedrohliches, dunkles«. Im Alter von 25 Jahren öffnete sich Herr Belgard zum ersten Mal mit dieser Thematik und wurde – über einige Hindernisse hinweg – in eine Therapie, später dann in eine Selbsthilfegruppe vermittelt.
Als Kind verhalfen ihm Scheinwelten und Übergewicht zu einem gewissen Schutz. Die Verletzungs-
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