Bindung und Sucht
und holte sie aus dem Kindergarten zum Mittagessenab. Danach blieb Petra den Rest des Nachmittags allein, den sie regelmäßig vor dem Fernseher zubrachte. Sie fühlte sich dabei einsam, was sie später in der Spieltherapie sehr gut beschrieb.
Als Schulkind kam zum exzessiven Fernsehkonsum noch das Spielen mit dem Gameboy hinzu, und auch Videospiele an der Spielkonsole dienten dazu, fehlende Beziehungserfahrungen zu ersetzen. Es zeigte sich, dass das Kinderzimmer eine regelrechte Sammlung von medientauglichen Geräten war. Die Eltern konnten sich nicht vorstellen, dass man eines der Geräte zur Nutzung der Videos bzw. DVDs, CDs und Computerspiele aus dem Kinderzimmer entfernen könnte.
Gleichzeitig hatte Petra nun begonnen, immer mehr zu essen, besonders wenn sie sich traurig und verlassen fühlte; sie hatte wegen der inzwischen auch nächtlichen »Fernsehsessions« Schlafstörungen, sie schwänzte öfter die Schule, es kam zu Schulversagen; einmal wurde sie erwischt, wie sie vormittags – während der Schulzeit – in einem Geschäft versuchte, ein Computerspiel für ältere Kinder zu stehlen. Bei der Durchsuchung ihrer Schultasche fiel auf, dass diese voller Süßigkeiten war, die sie – wie sie zugab – zuvor in verschiedenen Läden gestohlen hatte.
In der Kinderspieltherapie konnte Petra im Sandspiel neue Erfahrungen machen, sie entdeckte innere Welten, aufgrund ihrer großen Fantasie wurde sie eine exzellente Erfinderin von Kindergeschichten. Die Entdeckung ihrer inneren Welten machte ihr große Freude, sie fing auch an, Geschichten aufzuschreiben und diese zur Kinderspieltherapie mitzubringen oder auch ihrer Lehrerin zu zeigen, die über Petras neue Aktivitäten ganz begeistert war. Besonders wichtig war ihr, dass ihre Therapeutin diese Geschichten auch in ihrem Beisein las, dass sie darüber sprachen und dass sie erzählen konnte, wie sie auf die Ideen zu den Geschichten gekommen war.
Die Elternarbeit kreiste immer wieder um das Thema »Zeit fürs Kind«. Es war den Eltern nur mühsam zu vermitteln – und man musste ihnen diese Einsicht regelrecht »abringen« –, dass sie sich für Petra – ihr Kind! – Zeit nehmen mussten: Sie waren doch beruflich so sehr eingespannt! Erst nachdem sie langsam verstanden, dass die Entwicklung ihrer Tochter massiv gefährdet war und dass die Gefahr bestand, dass sie süchtig werden oder auch in eine dissoziale Entwicklung mit Schulversagen abgleiten konnte, waren die Eltern bereit, ihre beruflichen Aktivitäten an die Bedürfnisse ihrer Tochter anzupassen, so dass sie abends gemeinsam mit ihrem Kind zu Abend essen und anschließend noch spielen konnten; sie waren schweren Herzens bereit, auch an den Wochenenden Zeit für gemeinsame Aktivitäten mit ihrem Kind »zu opfern«, wie sie sagten. Petra genoss es sichtlich, dass die Eltern sich Zeit nahmen; die gemeinsamen Aktivitäten führten zu neuen emotionalen Erfahrungen und damit auch zu einer Vertiefung der emotionalen Beziehung zwischen den Eltern und ihr.
Die bindungsorientierte Therapie von suchtkranken Jugendlichen
Jugendliche stehen vor der Aufgabe, sich von ihrer Primärfamilie abzulösen und autonom in die Welt »hineinzugehen«, um diese zu entdecken und sich einen größeren Horizont zu erwerben. Für eine gelungene Ablösung sind die Bindungserfahrungen der Jugendlichen von großer Bedeutung, denn nur sichere Bindungen erlauben uneingeschränkte und angstfreie Exploration und Ablösung.
In der Regel ist die Mitgliedschaft in einer Clique oder Gruppe in der Adoleszenz eine Übergangssituation; die Gruppe unterstützt einen Jugendlichen dabei, neue Erfahrungen zu machen, die mit Angst verbunden sind, und begleitet ihn, so dass er den Weg zur Autonomie gut gehen kann. In der Gruppe werden im Rahmen der neugierigen Erkundung oft auch erstmals Erfahrungen mit Suchtmitteln wie Zigaretten, Alkohol, Drogen gemacht und hier erfolgt häufig auch ein exzessiver Medienkonsum, z. B. in tagelangen Lan-Partys. Solche Erfahrungen bedeuten aber noch nicht, dass alle diese Jugendlichen suchtkrank werden oder sogar schon sind, im Gegenteil: Die Konfrontation mit Suchtmitteln im Rahmen der Gruppe ermöglicht es den allermeisten Jugendlichen, diese Welt zu erkunden und dabei nicht suchtkrank zu werden. Vielmehr werden nur diejenigen Jugendlichen in eine Gefahrensituation geraten, die aufgrund des Fehlens einer sicheren Bindung ihren nicht selbst zu regulierenden Stress schließlich mit mehr Suchtmitteln – etwa durch
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