Bindung und Sucht
allgemein eine Veränderung der Körperform –, sowie auch sexuelle Wünsche und Fantasien können durch das Hungern gut kontrolliert und unterdrückt werden.
Gegenüber einer Psychotherapie sind Anorexiepatientinnen – Mädchen sind besonders häufig betroffen – in der Regel sehr ablehnend eingestellt, entsprechend dem häufig bei ihnen gefundenen bindungsvermeidenden Muster (s. hierzu auch den Beitrag von Becker-Stoll in diesem Band). Sie brauchen lange und eine ruhige therapeutische Beziehung, um ein Gefühl von Vertrauen und Sicherheit zur Therapeutin aufbauen zu können. Erst danach wird es manchmal möglich, auch frühere traumatische Erfahrungen durch gezielte traumatherapeutische Interventionen – wie etwa EMDR und Screentechnik – zu verarbeiten.
Auch körperorientierte Therapiemethoden – wie konzentrative Bewegungstherapie und Entspannungstechniken – können als aufeinander abgestimmte Behandlungsangebote der Mitglieder eines Teams im Rahmen einer stationären Therapie sehr gezielt eingesetzt werden. Aufgrund der frühen emotionalen Störung und der Deprivationserfahrungen wie auch der traumatischen Erfahrungen, die bei diesen Patientinnen oft vorliegen, sind eine gute Kooperation und Absprache im Team notwendig. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die Patienten die Teammitglieder in »gute« und »böse« Therapeuteninnen und Therapeuten »aufspalten« und versuchen, diese gegeneinander auszuspielen. Die dadurch entstehenden Spannungen im Team lähmen – wenn sie nicht in der Supervision besprochen und als innere Anteile des Patienten verstanden und integriert werden – den therapeutischen Fortschritt.
Therapiebeispiel Sandra
Die 17-jährige Sandra war in der Kindheit traumatischen Erfahrungen ausgesetzt: physischer Gewalt, speziell sexuellem Missbrauch. Sie hatte daher vor den mit der Pubertät verbundenen Veränderungen große Angst. Das Hungern gab ihr die volle Kontrolle über alle Gefühle und die Veränderungen in ihrem Körper; dies warihr sehr wichtig und sie wollte auf gar keinen Fall diese Kontrollmöglichkeit aufgeben.
In vergleichbaren Situationen sehe ich immer wieder, dass niedergelassene Ärzte Medikamente verschreiben, etwa Psychopharmaka (Tranquilizer, Antidepressiva, Neuroleptika), auch Östrogene, um die durch das Hungern aufgebaute Abwehr dieser Jugendlichen zu umgehen oder herabzusetzen. Dies führt nur in neue abhängige Suchtmechanismen und zu noch stärkerem Hungern, also in einen Teufelskreis mit einer Verschlechterung der Symptomatik, die mit Medikamenten bekämpft wurde, welche wiederum die Sucht verstärkten, was erneut mit Medikamenten bekämpft wurde. In der therapeutischen Arbeit mit Sandra waren viele tägliche Kurztermine notwendig, um sie von diesen durch externe Kollegen verordneten Tranquilizern wieder »herunterzubringen«. Sandra fürchtete sich zwar vor der Wahrnehmung ihres Körpers, gleichzeitig machte sie aber in der Therapie neue Erfahrungen, wonach sie mit ihrer Angst in der therapeutischen Beziehung gehalten wurde; dadurch wurde für sie eine vorsichtige Betrachtung ihrer inneren Spannungen und ihrer Innenwelten mit all den angstmachenden Fantasien und unterschiedlichen Persönlichkeitsanteilen möglich.
Die bindungsorientierte Arbeit mit suchtkranken Erwachsenen
In der Erwachsenenwelt werden vielfach Medikamente, Alkohol und Drogen als Ersatz für Bindungserfahrungen eingesetzt, auch werden zur Regulation von stressvollen Gefühlen von Ärzten Psychopharmaka verschrieben. Suchartiges Verhalten kommt aber auch bei Workaholics vor, die durch ständige Aktivität und Überarbeitung ihre Selbstwirksamkeit intensivieren, um sich gegen Gefühle von Angst, Depression und Einsamkeit zu wehren, genauso wie bei Sex- und Beziehungssüchtigen (»Sex-Addicts«), die große Angst davor haben, ihre innere Einsamkeit wahrzunehmen, und daher aus einer sexuellen Beziehung in die nächste wechseln. Hierbei geht es gar nicht um Sexualität, sondern um die Vermeidung von Gefühlen von Leere, Depression und Einsamkeit.
Wenn in der therapeutischen sicheren Beziehung mit dem Therapeuten erstmals neue emotionale Erfahrungen gemacht werden können und in einem bezüglich der Frequenz der Therapiestunden sehr flexiblen Setting sowie auch durch zusätzliche Kontakte per SMS mit dem Mobiltelefon und über E-Mails Sicherheit und Intensität erreicht werden, zugleich die Regulierung von Nähe und Distanz flexibel bleibt, können diese Patienten erstmals erfahren, wie sie
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