Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
sechs Kubikmeter Volumen.«
»Wo hast du das denn her?!«
»Ich werfe ja Diskus, oder.«
Lena konnte den logischen Zusammenhang zwischen Frage und Antwort nicht nachvollziehen, aber so war Wassylyna eben. Unlogisch war sie, und sie warf den Diskus, das stimmte.
Doch zurück zur Valeologie. Das ist eine Gesundheitslehre. Sie handelt davon, wie man aus einem durchschnittlichen Menschen ganz ohne Gewaltanwendung einen gesunden Menschen macht, und zwar so, dass der Mensch das sogar selber möchte. Also gesund sein möchte. Diese Wissenschaft an sich war unklar, oberflächlich, sagte Lena später, denn was bedeutet schon Gesundheit? Eine reine Fiktion. Lenas Oma meinte, Gesundheit sei, wenn es jeden Tag an einer anderen Stelle wehtat. Eine bessere Definition gibt’s nicht. Weise Worte! Außerdem: Wie können Menschen gesund sein, wenn sie nicht ganz richtig im Kopf sind?
In der Valeologie gibt es eine raffinierte Klassifizierung. Die Menschen werden in drei Kategorien eingeteilt: Gesunde, Kranke und Menschen, die sich »im dritten Zustand« befinden. Dieser »dritte Zustand« interessierte Lena am allermeisten.
»Wassylyna«, sagte sie zu ihrer Mitbewohnerin, »du bist ein hervorragendes Beispiel für den dritten Zustand.«
»Nein, ich bin eine Vertreterin der fünften Generation«, widersprach Wassylyna, »und was ist der dritte Zustand?«
»Der dritte Zustand ist, wenn man weder gesund noch krank ist.«
»Kann es das geben?«
»Offenbar schon. Und was heißt fünfte Generation?«
»Das ist die letzte Generation von Menschen, die jetzt auf der Erde geboren werden. Das sind Übermenschen mit besonderen Fähigkeiten. Sie können sogar auf dem Wasser gehen, wie Jesus. Genaugenommen war Jesus der erste Vertreter der fünften Generation.«
»Und was hast du so für besondere Fähigkeiten?«
»Ich bin gerade dabei, es herauszufinden. Aber ich bin ganz sicher die fünfte Generation. Ich habe ein Zeichen auf der Stirn.«
Wassylyna war sehr stämmig. Eine Riesin. Allein schon ihr kugelrundes Gesicht hatte einen Meter Durchmesser. Wenn sie rannte, und sie rannte nur, wenn sie zum Diskuswerfen Anlauf nahm, konnte sie einen daneben Stehenden mit ihren wie Lefzen schlackernden Wangen erschlagen.
Sie hatte so gut wie keine Haare auf dem Kopf. Die nachwachsenden schnitt sie mit einer Nagelschere weg. Ihr Studentenheimbett brach unter ihr zusammen, als sie sich zum ersten Mal draufsetzte. Sie musste sich ein neues Bett kaufen. Das neue war aus Eisen und mit Sprungfedern ausgestattet.
Ihr Studium begann Wassylyna nicht nach der Schule, sondern nach einem Gefängnisaufenthalt. Sie hatte einen Mann, der sie als Gorilla beschimpfte, zwanzig Meter weit geworfen. Der Mann brach sich sämtliche Knochen und Wassylyna wurde wegen schwerer Körperverletzung für ein Jahr eingesperrt.
Die Menschen gehen sehr leichtfertig mit Worten um und wollen keine Verantwortung für das Gesagte übernehmen, erkannte Lena. Das ist ihr großes Problem.
Gleich zu Beginn ihrer Bekanntschaft half Wassylyna Lena sehr. Der Besitzer der Kunstlederwaren, die Lena auf dem Markt verkaufte, beschuldigte sie, die Einnahmen eingesteckt zu haben. Lena hatte aber nichts genommen. Die Händler griffen oft zu solchen Tricks und behaupteten: Du hast uns um unser Geld betrogen, gib es wieder her, sonst zeigen wir dich an. Bei der Polizei saßen natürlich die Kumpel der Händler, und die Freunde und Helfer würden alles so hinbiegen, dass es tatsächlich nach Diebstahl aussah.
Eines Tages kam ein Männlein zu Lena ins Wohnheim, um sie einzuschüchtern. Lena beteuerte:
»Ich hab nichts genommen. Und außerdem: Ich habe in der ganzen Zeit, in der ich auf dem Markt gearbeitet habe, nichts verkauft. Ich tauge überhaupt nicht als Verkäuferin. Dafür kenne ich mich mit der Wissenschaft aus.«
»Die Polizei soll beurteilen, womit du dich auskennst.«
Als das Wort »Polizei« fiel, reagierte Wassylyna blitzschnell und unmissverständlich. Sie hatte zweifellos ihre Gründe. Sie sagte zum Männlein:
»Was hast du gesagt, Bursche?!«
Der »Bursche« machte sich fast in die Hose.
»Ich habe nicht mit Ihnen geredet …«
»Das ist mir wurscht, dafür rede ich jetzt mit dir!«, grollte Wassylyna und schob ihn brüsk zur Seite.
Das Männlein ging ihr bis zum Bauchnabel. Lena bekam ein bisschen Angst, denn falls Wassylyna ihn werfen würde, hätte das nicht nur Knochenbrüche zur Folge. Dem Männlein war das Gott sei Dank auch bewusst und es suchte das Weite. Lena
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