Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
ein kluger Mann und ihm war sofort klar, dass Lenas Geld nur für Sport gereicht hatte.
»Sport ist nicht so ganz deine Sache, oder?«
»Nein«, antwortete Lena ehrlich.
»Vielleicht Ski fahren? Wir haben gerade zu wenige Skiläufer.«
»Ich kann nur Rad fahren. Gibt’s kein Tanzen? Ich kann Lambada …«
»Lambada kannst du in der Disco tanzen. Das hier ist eine Universität.«
Lena weinte.
»Hör auf zu heulen«, sagte der Dekan, »bei uns kann man auch forschen.«
»Forschung – dafür bin ich die Richtige! Ich bin intelligent, versprochen! Ich wollte eigentlich Philosophie studieren!«
»Gut, dann kommst du in die Forschung. Such dir eines von beiden aus: ›Fragestellungen der zeitgenössischen Valeologie‹ oder ›Rehabilitation‹?«
Lena sagte das Wort »Valeologie« zu. Was es bedeutete, wusste selbst ein Valeologe nicht. Für Lena klang es wie der ukrainische Ausdruck für Herumliegen, also Faulenzen. Deshalb entschied sie sich für die »Fragestellungen der zeitgenössischen Valeologie« und ging glücklich ihre Runden drehen, denn davon war sie leider trotzdem nicht befreit.
»Heute hasse ich Sport in allen seinen Ausprägungen«, schrieb Lena in einem Tagebucheintrag unter dem Titel »Was ich sonst noch alles hasse«. »Ich hasse Laufen, Kniebeugen und Spiele, bei denen man laufen und generell Bewegung machen muss. Außerdem kann ich keine laufenden Menschen mehr sehen. Da wird mir richtig speiübel. Am liebsten würde ich ihnen hinterherrufen: ›Könnt ihr nicht mal eine Minute stehen bleiben? Wo rennt ihr alle hin?‹«
Laufen war Lenas Meinung nach überdies schlecht fürs Herz. Das hatte sie in der Zeitschrift »Wissenschaft und Religion« gelesen. Das Herz mache im Laufe des Lebens eine bestimmte Anzahl von Schlägen. Je langsamer es also schlägt, desto länger lebt man. Wenn man damit aber unvernünftig umgeht, dann kann man froh sein, wenn man seinen dreißigsten Geburtstag noch erlebt. Das Herz muss man schonen. Es leidet sowieso viel.
Lenas Herz zum Beispiel.
Ihre Eltern luden sie ins Café »Körbchen« ein, um ein ernstes Gespräch zu führen. Der Vater bestellte ein Bier, die Mutter nichts, Lena auch ein Bier. Sie saßen an einem großen Holztisch, und in der Vitrine neben ihnen schimmelten Schlagobersdesserts mit Heidelbeeren aus dem Vorjahr vor sich hin.
»Wir müssen ernsthaft mit dir reden«, eröffnete Lenas Mutter.
»Ich bin ganz Ohr.«
»Wir lassen uns scheiden.«
»Was?!«
Es kam heraus, dass Lenas Eltern seit vielen Jahren Affären hatten und nur noch wegen ihrer Tochter zusammenlebten.
»Aber jetzt bist du erwachsen«, sagte Lenas Mutter, »du studierst schon. Du wirst das sicherlich verstehen. Wir haben dir alles gegeben, was wir konnten, aber jetzt wollen wir auch mal für uns leben.«
»Tut euch keinen Zwang an«, rief Lena, »hab ich euch jemals gestört?!«
»Wir verkaufen die Wohnung und besorgen uns dafür zwei Einzimmerwohnungen, eine für deinen Vater, eine für mich«, fuhr Lenas Mutter nüchtern fort.
»Und was ist mit mir?«
»Na ja, fürs Erste könntest du bei mir wohnen«, druckste die Mutter herum, »gemeinsam mit Onkel Stepan.«
»Onkel Stepan?«
»Du kennst ihn nicht. Er hat bei uns in der Schoko gearbeitet (so nannte Lenas Mutter die Schokoladenfabrik).
»Oder du kannst bei mir wohnen«, mischte sich Lenas Vater ein, »mit mir und Tamara.«
»Tamara? Na, ihr seid gut!«
Lena packte ihre Siebensachen und zog ins Studentenheim. Um zu forschen. Damals sagte sie sich ständig, dass es noch zu früh sei, um enttäuscht zu sein, alles finge erst an. Wie es anfange, sei eine andere Frage, aber das Wichtigste sei, dass es überhaupt anfange. Wie es sich dann entwickeln würde, das hinge in der Folge von ihr selbst ab.
Lenas Mitbewohnerin hieß Wassylyna und sah aus wie ein Kleiderkasten – zwei Meter groß, zwei Meter breit, Spezialfach Diskuswerfen. Jedenfalls war diese Wassylyna ein großer Fan der russischen Rocksängerin Semfira. Sie hörte ihre Lieder ständig in voller Lautstärke und heulte Rotz und Wasser, während sie mit vollen Backen Nudeln direkt aus dem Kochtopf aß. In einem Lied kam die Textzeile vor »wenn wir nicht fliegen können, dann schwimmen wir eben«. Lena weinte im Takt mit.
»Man kann auch noch kriechen«, sagte sie, »hüpfen, stapfen, latschen, essen, fressen, futtern, schlafen. Aber eigentlich würde ich viel lieber fliegen.«
»Um zu fliegen«, widersprach ihr Wassylyna, »braucht man einen Brustkorb mit
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