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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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lang. Plötzlich sprang der alte Mann aus der Fahrerkabine auf den Acker. Er beugte sich über den Weizen und rief:
    »Was gibt’s denn da zu mähen, Businessman?«
    Lenas Vater wusste nicht, wie die Frage zu verstehen war.
    »Na, den Buchweizen, was sonst?«
    »Und wo soll der sein?«
    »Na, der ganze Acker vor deiner Nase!«
    »Acker seh ich, aber wo ist der Buchweizen?«
    »Verarschst du mich?«
    »Nein, du willst mich verarschen. Stängel sind da, aber Samen sind keine da, schau mal, alles leer.«
    Lenas Vater riss ein paar Stängel ab. Ganz normale Stängel, nichts Besonderes.
    »Ja, schau genau hin, nicht ein einziges Samenkorn«, rief der Mann, »wenn wenigstens eines da wäre, aber da ist nix!«
    »Es hat ja geblüht«, brummte Lenas Vater.
    »Hör mir zu, Businessmann, hast du Bienen hergebracht?«
    »Was für Bienen?«
    »Na, ganz normale! Bienenstöcke mit Bienen drin. Zum Bestäuben.«
    »Hätte ich das tun sollen?«
    »Na, du bist mir ein toller Businessmann! Was willst du ohne Bienen? Soll der Buchweizen sich selbst bestäuben?!«
    »Ich wusste gar nicht, dass man zum Buchweizen auch noch Bienen braucht …«
    »Wenn es in der Nachbarschaft welche geben würde, dann würde ich’s noch verstehen, aber heutzutage hält ja keiner mehr Bienen. Geh einmal im Dorf herum, du wirst keine Bienenstöcke finden. Honig wird heutzutage aus polnischem Pulver gekocht. Na, du bist mir ein ganz Schlauer! Lauter Fehlblüten! Frag wenigstens jemanden, wenn du dich nicht auskennst.«
    »Wer hätte gedacht, dass der Buchweizen so tückisch ist. Bienen herbringen … Wer hätte das gedacht …«
    Der alte Mann machte eine wegwerfende Handbewegung und zog mit seiner Maschine wieder ab. Lenas Vater fiel bis auf Weiteres in eine postkapitalistische Depression.
    »Das glaubt man ja nicht, wie ausgefuchst das ist«, brabbelte er vor sich hin, während er auf dem Balkon irgendwas aus Apfelwein Gebranntes trank, »zum Buchweizen braucht’s noch Bienen! Die Welt ist schon kompliziert.«
    Um den Großeltern das Begräbnisgeld zurückgeben zu können, musste nun auch Lena auf dem Markt verkaufen. Sie hatte im Moment viel Freizeit und das ganze Leben noch vor sich.
    Sie verkaufte verschiedenste Kunstlederwaren: Handschuhe, Schirmmützen, Geldbörsen, Taschen, Gürtel. Die Kunstlederjacken wurden Lena noch nicht anvertraut, denn damit war das große Geld zu machen. Außerdem musste man, wenn die Kunden fragten, ob die Jacken aus echtem Leder seien, ohne mit der Wimper zu zucken antworten: Ja, die sind aus Leder! Lena konnte das nicht.
    Der ehemalige Literaturprofessor Teofil Karnickel, der am Nachbarstand handelte, sagte:
    »Na, du Kind des Proletariats, hast du schön studiert?«
    »Wissen Sie«, antwortete Lena, »die haben’s dort nicht gern, wenn man eine eigene Meinung hat.«
    »Welche Meinung kannst du denn schon haben?! Du bist doch seit deiner Geburt beschränkt!«
    »Warum sagen Sie das, Herr Karnickel?! Sie wollen andere ständig völlig grundlos beleidigen.«
    »Ohne Grund? Es gibt sogar einen sehr guten Grund. Du hast ja nicht einmal kapiert, dass man an die Universität Geld mitbringen muss und keine Meinung!«
    »Wieso denn Geld? Bei uns ist die Bildung kostenlos.«
    »Na sicher, deshalb kannst du jetzt ja kostenlos auf dem Markt rumsitzen!«
    Ein paar Tage lang dachte Lena über die Worte von Teofil Karnickel nach, dann suchte sie ihn auf.
    »Herr Karnickel, wie haben Sie das gemeint, dass man Geld mitbringen soll?«
    »Na, genau wie ich’s gesagt hab. Schmiergeld für den Vorsitzenden der Prüfungskommission. Oder für einen Professor. Das geht aber nur mit Beziehungen. Man muss wissen, wem man was gibt.«
    »Und Sie haben Beziehungen?«
    »Hast du Geld?«
    »Ich könnte es auftreiben.«
    »Also gut, wenn du es beisammen hast, kannst du wiederkommen. Aber lass dir nicht zu viel Zeit, ab September kommst du nirgendwo mehr rein.«
    Lena fuhr zu ihren Großeltern, um sie um Geld zu bitten. Die hatten außer dem Begräbnisgeld noch einen Notgroschen. Auf dieses Geld hatte Lena es abgesehen. Die Oma gab ihr Erspartes ohne zu zögern. Sie sagte: »Bildung ist das Wichtigste, lern was, Kindchen, was du lernst, das verbrennt nicht im Feuer und geht nicht im Wasser unter.« Lena bekam feuchte Augen. Sie bedankte sich und wünschte ihren Großeltern ein langes Leben. Ihnen blieb ja schließlich nichts anderes übrig, als lange am Leben zu bleiben. Um wieder genug für das Begräbnis anzusparen.
    »Wenig«, sagte Teofil

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