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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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kalt und grausam.«
    (Später stellte sich heraus, dass man in der Unibibliothek von San Francisco nie von der Enzyklopädie gehört hatte.)
    Wassylyna konnte es nicht leiden, wenn jemand sentimental wurde. Sie nannte es »zentimentrales Verhalten«, weil es die Weltsicht auf einen Zentimeter verengte.
    »Ich kann ihn auch verdreschen«, schlug sie vor.
    »Nein, nicht hauen. Ich bleibe noch ein wenig liegen und stehe dann auf.«
    Danach hatte Lena noch einen Kanuten, einen Skifahrer und zwei Volleyballspieler. Die Geschichte wiederholte sich jedes Mal. Lena lag im Bett und Wassylyna fütterte sie mit Nudeln. Das war das Einzige, das sie kochen konnte. Sie warf die Nudeln in kochendes Wasser und holte sie nach fünfzehn Minuten wieder heraus. Kinderleicht und nährstoffreich, kommentierte sie ihre Kochkünste.
    Eines Tages kam Wassylyna ganz aufgeregt vom Unterricht zurück.
    »Lena, steh auf, wir fahren mit dem Nachtzug nach Kiew. Tickets hab ich schon, dritte Klasse, passt das?«
    »Was willst du in Kiew?«
    »Semfira spielt. Wir fahren zum Konzert.«
    Lena begann langsam etwas zu dämmern, aber sie sagte nichts.
    Sie packten einen Rucksack für zwei und fuhren mit dem Nachtzug in die Kastanien-Hauptstadt der Ukraine.
    Lena war noch nie in Kiew gewesen, und auf einem Live-Konzert schon gar nicht. Der Skifahrer (oder war das damals schon der Volleyballer?) war jetzt mit irgendeiner Tussi von der Sprachenfakultät zusammen, und Lena war wieder offen für neue Erfahrungen.
    Der Zug fuhr abends von San Francisco ab und kam frühmorgens in Kiew an. Wassylyna saß in der »dritten Klasse« (nur dort konnte sie normal sitzen) und schaute aus dem Fenster. Der Zug rollte behäbig und mit einem Grollen, als hätte er genug davon, diese vom Schicksal gebeutelten Passagiere mit ihren Käsefüßen und ihrem Reiseproviant aus Räucherwurst, Brot und geviertelten Zwiebeln hin- und herzufahren.
    Lena sagte:
    »Ich bin deine beste Freundin. Raus mit der Sprache: Bist du in Semfira verknallt?«
    Wassylyna kauerte sich zusammen und schwieg.
    »Wie kann man sich in eine Sängerin verknallen?«
    Schweigen.
    »Du hast sie nie gesehen.«
    Schweigen.
    »Na gut, sie kann singen, ich finde sie auch gut, sie ist so … Man sieht, dass sie so lebt, wie sie singt. Brutal, aber ehrlich. Aber verlieben?«
    »Ich bin nicht verliebt«, presste Wassylyna endlich aus ihrem riesigen Körper heraus, »die Leute nennen das nur so.«
    »Du bist verknallt, mach mir doch nichts vor!«
    »Verstehst du, sie ist … ein Genie.«
    »Na und? Hast du eine Ahnung, wie viele Genies es gibt? Soll ich mich jetzt in alle verknallen?«
    »Es gibt nicht viele Genies«, widersprach Wassylyna, »sie sind so rar, wie deine nächtlichen Regenbögen. Sie kommen nur ganz selten, um die Welt zu verschönern.«
    Lena rief:
    »Zentimentrales Verhalten!«
    »Ist mir wurscht«, brummte Wassylyna und sagte kein Wort mehr.
    »Wassylyna war unlogisch«, schrieb Lena später in ihren Tagebüchern, »noch so ein armes Würstchen, mit dem ich vier Jahre verbringen musste. Vermutlich zog ich solche traurigen Gestalten an, weil ich mich immer so heldenhaft darstellte. Es ist übrigens sehr einfach, eine Heldin zu sein. Es reicht, wenn man an seine eigene Kraft glaubt und sagt: Seht her, ich bin eine Heldin. Und alle glauben dir. Oder zumindest die meisten. Und mit den anderen redet man am besten gar nicht und geht ihnen lieber aus dem Weg. So wird man zum Helden in seiner eigenen kleinen Welt.«
    Um sechs Uhr morgens erreichten sie Kiew. Ein paar Stunden lang schleppten sie sich durch die Innenstadt, froren auf dem Unabhängigkeitsplatz, aßen Katzenkebab und tranken Tee aus den Automaten in der Unterführung. Schließlich fanden sie einen Park, wo sie abwechselnd auf einer Bank schliefen und auf den Rucksack aufpassten. Lena sagte:
    »Und wo sind die Kastanienbäume? Hast du einen gesehen?«
    »Für mich schauen alle Bäume wie Kastanienbäume aus«, antwortete Wassylyna. »Ich kenne mich mit Biologie nicht aus.«
    Aber sie hörte Lena gar nicht zu, sondern träumte vor sich hin. Während des Konzerts war sie ganz still. Sie schaute Semfira beim Singen zu und hielt dabei den Atem an. Lena dachte schon, ihre mutige Diskuswerferin – eine halbe Olympiasiegerin – sei mit offenen Augen gestorben. Möglicherweise wollte es Wassylyna so, damit sich das, was sie gerade sah, für immer in ihre Netzhaut einbrannte.
    Das Konzert wird enden und Wassylyna in ihr Rattenloch von einem

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