Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
Wohnheimzimmer zurückkehren, wo sie weiterleben wird wie bisher – mit ihrem Kassettenrekorder und ihren Nudeln. Aber ab jetzt wird es etwas geben, woran sie sich erinnern kann. Das Bild, das mit der Zeit in ihrem Gedächtnis immer mehr verblasst, wird sich zu ihrer persönlichen Hölle entwickeln. Sie wird die Szene immer und immer wieder abspulen, bis der Tag kommt, an dem von der Erinnerung nur Leere übrig bleibt. Wie das Skelett eines Verstorbenen.
Als das Konzert zu Ende war und die Zuschauer langsam den Saal verließen, blieb Wassylyna regungslos auf ihrem Platz sitzen und starrte auf die leere Bühne.
»Sie ist ein Genie«, flüsterte sie.
»Sag mal, kennst du noch andere Ausdrücke?«
Lena versuchte, Wassylyna aus ihrem Sessel zu bekommen, aber das war so, als wollte man einen schlafenden Elefanten von der Stelle bewegen.
»Komm jetzt, Wassylyna! Oder bist du angewachsen?! Sind wir denn umsonst hergefahren? Komm, reden wir mit ihr.«
»Mit wem?«, fragte Wassylyna, sie verstand nicht.
»Was heißt mit wem?! Mit deiner großen Liebe.«
»Mit Semfira? Reden? Kann man das?«
»Alles kann man! Sie ist ein Mensch wie du und ich! Los!«
Wassylyna trottete hinter Lena her, wie zu ihrer Hinrichtung. Das Gehen fiel ihr schwer.
»Was soll ich ihr sagen, Lena? Ich habe ihr nichts zu sagen.«
»Dir wird schon was einfallen.«
»Ich kann nicht …«
Lena marschierte zum Hintereingang. Sie hatte oft im Fernsehen gesehen, wie Fans ihren Stars dort auflauerten. Aber Lena war nicht die Einzige, die fernsah, denn es hatte sich bereits eine riesige Menschenmenge versammelt, und es war chancenlos, näher heranzukommen.
Die Fans riefen: »Semfira, du bist unsere Göttin! Semfira, wir lieben dich!«
Wassylyna sah im Vergleich zu ihnen albern, ja fast schon lächerlich aus.
»Na los«, ermunterte Lena, »stürz dich ins Getümmel! Du kannst sie alle mit links niederstrecken.«
»Ich kann nicht«, murmelte Wassylyna, »ich weiß nicht, was ich ihr sagen soll.«
»Sag ihr, dass du sie liebst! Das wolltest du doch, oder?«
»Das rufen ihr schon eine Million andere zu, hörst du nicht?«
»Na ja, es ist nicht leicht, in der Liebe originell zu sein.«
Wassylyna stand da und über ihre Wangen, mit denen sie bekanntlich jemanden erschlagen konnte, kullerten Tränen, die so riesig waren, wie Wassylyna selbst.
»Sie soll ihr Leben leben, und ich meines«, flüsterte sie, »sie soll singen und ich werde zuhören.«
Die Menge heulte auf, was so viel bedeutete wie: Semfira hat das Gebäude verlassen und versucht sich jetzt zu ihrem Wagen durchzukämpfen. Wassylyna wurde für einen kurzen Augenblick aus ihrer Apathie gerissen, sank aber gleich wieder in sich zusammen. Sie drehte sich weg und wollte davonlaufen. Die Menge erkannte die günstige Gelegenheit und stürzte sich auf das Objekt ihrer Begierde, das seinen Wagen nicht erreichen konnte. Die wenigen Bodyguards konnten nichts mehr ausrichten. Sie wurden innerhalb von Sekunden zu Boden getrampelt.
»Semfira, du bist unsere Göttin! Wir lieben dich!«
Lena dachte damals, eine solche Liebe sei schlimmer als Hass. Sie hatte etwas beängstigend Zerstörerisches an sich.
»Was macht ihr?!«, rief jemand. »Ihr zerquetscht sie!«
Und genau das wollten die Fans. Sie wollten Semfira in kleine Stückchen zerreißen und als Andenken nach Hause mitnehmen. Zwischen die Seiten eines dicken Buches pressen, um im Alter etwas zu haben, mit dem sie bei ihren Enkeln und Urenkeln angeben könnten.
Plötzlich brüllte hinter Lenas Rücken jemand so laut, dass das Blut in ihren Adern die Richtung änderte:
»Halt, ihr Dreckschweine!!!«
Brüllend stürzte sich Wassylyna in die Menge, Menschen flogen wie lose Fleischfetzen nach allen Seiten. Sie trampelte über Oberkörper und Köpfe hinweg. Wehe dem, der Wassylyna im Weg stand!
Sie hob Semfira hoch und trug sie auf ausgestreckten Armen vom Schlachtfeld, als wäre sie eine Schaufensterpuppe. Neben dem Wagen stellte Wassylyna die Sängerin sacht auf den Boden.
Semfira wischte ein wenig Schmutz von ihrer Kleidung, sah Wassylyna an, lächelte und bedankte sich beim Einsteigen ins Auto auf Russisch:
» Spasiba .«
Wassylyna antwortete auf Ukrainisch:
» Bud laska .«
Sie lächelte zurück.
Semfiras Wagen fuhr an und verschwand bald darauf im Dunkeln. Wassylyna stand wie angewurzelt da und grinste. Sie säuselte verzückt:
»Ich habe mit ihr geredet. Sie hat Danke gesagt.«
»Na siehst du, und du hattest Angst. Ich hab dir ja
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