Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
gesagt, dass dir schon was einfallen wird.«
Ein paar Jahre später veröffentlichte Semfira ein Album mit dem Titel Spasiba . Wassylyna ist der Meinung, dass es ihr gewidmet ist.
6 Warum sie keine Herrin sein wollte
Lena besaß keine materiellen Werte, aber dafür hatte sie einen nüchternen Verstand. Nüchtern und klar. Möglicherweise auch ein wenig zynisch, aber Zynismus dient dem Selbstschutz in Ausnahmesituationen. Lena knüpfte die letzte Hoffnung an ihren Verstand.
Im Lauf der Zeit musste sie aber zugeben, dass nicht einmal auf ihren klaren, nüchternen Verstand Verlass war. Erstens war der Verstand nicht immer nüchtern im eigentlichen Sinne des Wortes, doch ist Alkohol nie die Ursache, sondern immer nur eine Folge. Zweitens gab es auch mit der Klarheit zunehmend Schwierigkeiten. Ich verstand nicht mehr genau, was um mich herum geschah, sagte Lena. Mich quälte diese getrübte Wahrnehmung, aber ich wollte mir nicht eingestehen, dass ich nichts verstand.
Nach dem Verlust ihres Glaubens an Gott fokussierte Lena ihre Sinnsuche auf irdischere Bereiche. Wenn man den tieferen Sinn des Daseins ergründen will, muss man sich manchmal zunächst der realen Welt zuwenden. Intellektuelle neigen dazu, sich über die Realität hinwegzusetzen, und Lena erging es ähnlich, obwohl sie keine Intellektuelle war. Das Leugnen der Realität ist ein großer Fehler, stellte sie fest. Man kann es drehen und wenden, wie man will, aber die Realität bleibt das einzig Konkrete, was uns Menschen gegeben ist. Man sollte also lernen, mit ihr zurechtzukommen.
An der Universität studierte ein Typ, den alle Darwin nannten, weil er der lebende Beweis für die Richtigkeit der Darwin’schen Theorie war, wonach der Mensch vom Affen abstammt. Besagter Darwin hüpfte jedoch nicht von Baum zu Baum, sondern war Sportschwimmer. Trotzdem nannten ihn alle Darwin. Er sah nicht schlecht aus, hatte volle rote Lippen, einen gesunden, durchtrainierten Körper, blonde Haare, blaue Augen – mit einem Wort: ein Bilderbuch-Arier, aber leider nicht sehr helle.
Lena nervte an Darwin, dass er niemals zweifelte. An rein gar nichts. Wenn er etwas sagte, dann war daran nicht zu rütteln.
»Sport ist das Wichtigste im Leben«, verkündete Darwin etwa, und es war aussichtslos, ihn zu überzeugen, dass der Mensch nicht vom Sport allein lebt. Sport war »zum Wichtigsten« erhoben und Punkt.
Auf diese Weise funktionierte Darwin immer.
»Man muss Rote Rüben essen«, sagte Darwin. Kategorisch.
Schluss, aus. Rote Rüben und nicht Kraut.
»Der Mensch muss für das Wohl der Gesellschaft arbeiten, in der er lebt.«
Ende der Durchsage.
»Man darf seinen Eltern nicht widersprechen, weil sie viel Lebenserfahrung haben.«
Erledigt.
»Die russische Propaganda ist auf die Zerstörung der ukrainischen Unabhängigkeit ausgerichtet.«
Keine Diskussion darüber.
Manchmal widersprach Darwin sich selbst, das heißt, er vertrat zwei einander völlig ausschließende Theorien gleichzeitig. So behauptete er beispielsweise, es sei eine große Ehre, sein Leben für das Vaterland zu opfern. Ein anderes Mal gab er zu, dass man sich seine Heimat selbst aussuchen könne und er sich für die Ukraine entschieden habe. Lena folgerte daraus, dass es klug wäre, sich eine Heimat auszusuchen, für die man sein Leben nicht irgendwann zu opfern brauchte.
Aber die Heimat heißt Heimat, weil man sie sich leider nicht aus einem großen Topf von Möglichkeiten herauspicken kann. Wenn ich es mir aussuchen könnte, sagte Lena später, wäre die Ukraine längst nicht meine erste Wahl. Vermutlich würde ich Griechenland nehmen, weil das Meer dort blau ist und nicht so schwarz wie in der Ukraine. Als Britin wäre meine Muttersprache Englisch und ich müsste es nicht in der Schule lernen. Diese Sprache raubt mir nämlich den letzten Nerv. Ich hab eine Menge Zeit damit verbracht, Englisch zu lernen, bringe aber immer noch keinen geraden Satz heraus.
Einmal kam Darwin in der Pause zu Lena, als sie im Hof saß und an einem Apfel knabberte. Er sagte:
»Hör zu, Lena, du bist ja eigentlich kein dummes Mädel …«
»Danke«, entgegnete Lena.
»Warum bist du immer noch nicht bei unserer Organisation?«
»Welcher Organisation?«
»Der jungen Nationalisten.«
»So was gibt’s?«
»Ja, wir heißen ›Bewegung des Widerstandes‹ Ich bin stellvertretender Vorsitzender.«
»Und wogegen leistet ihr Widerstand?«
»Na ja, wir sind eine nationalistische Organisation. Wir bringen junge,
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