Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
Man musste damit nur das Schaufenster einwerfen, der Rest würde sich von selbst erledigen. Lena schlug vor, zur Stärkung des Kampfgeistes am Vorabend eine Lesung mit Gedichten von Taras Schewtschenko zu veranstalten, doch niemand unterstützte den Vorschlag. Schewtschenko war ihnen schon seit der Schulzeit nicht sonderlich sympathisch.
Lena wurde die Ehre zuteil, das explosive Gemisch ins Schaufenster der Buchhandlung zu werfen. Weil sie mutig und romantisch auftrat. Wassylyna warnte sie:
»Du machst eine Dummheit, Lena.«
»Das mag schon sein, aber das ist nur der erste Schritt. Später werden wir die Welt verändern. Das habe ich mir immer schon gewünscht. Das ist meine Mission. Ich will, dass alle Menschen glücklich sind.«
Wassylyna zuckte die Achseln, was bedeutete: Verbrenn du deine Buchhandlung, wenn du meinst. Mir soll’s wurscht sein.
Also tat Lena, was zu tun war.
Vier Uhr morgens ist die beste Zeit für Verbrechen. Die Straßen sind menschenleer, alle schlafen, sogar die, die sich am nächsten Morgen beschweren werden, dass sie die ganze Nacht kein Auge zubekommen haben.
Der geistige Anführer erschien wieder nicht zur Aktion. Angeblich musste er für einen wichtigen Test lernen.
Die Untergrundkämpfer näherten sich der Buchhandlung. Das Schaufenster leuchtete hell. In der Auslage standen Bücher, viele Bücher, alle druckfrisch und in glänzenden Einbänden: »Burgen und Schlösser in Lemberg und Umgebung« auf Ukrainisch sowie »Das Gold Ägyptens« und die »Große illustrierte Enzyklopädie der Dinosaurier« auf Russisch. Das Angebot war eher auf Unterhaltungslektüre ausgerichtet, aber, schrieb Lena später, Lektüre sollte auch unterhaltsam sein, nicht wahr?
»Du, Darwin«, flüsterte sie ihrem Weltverbesserungskollegen zu, »sag, welche Bücher liest du eigentlich?«
»Für mich ist Sport das Wichtigste im Leben«, antwortete Darwin.
»Heißt das, du liest gar keine Bücher?«
»Na ja, ich hab schon ein paar gelesen …«
»Und welche?«
»Keine Ahnung, was willst du von mir?!«
Diese Antwort machte Lena stutzig.
»Pass auf, Darwin, was wäre, wenn dieses Geschäft keine russischen Bücher verkaufen würde, sondern, keine Ahnung, russische Turnschuhe …«
»Die Turnschuhe kommen jetzt alle aus Russland …«
Lena rief wütend:
»Nein, meine Lieben, so geht das nicht! Russische Bücher sollen wir verbrennen, aber russische Turnschuhe darf man tragen! Was ist das für eine Doppelmoral! Wo ist der Unterschied zwischen Büchern und Turnschuhen?! Wieso zünden wir keine Turnschuhgeschäfte an? Ich würde das sehr gerne tun. Ich hasse Sport!«
»Im Gegensatz zu Büchern beeinflussen Turnschuhe nicht deine Weltanschauung.«
»Und wie beeinflusst die ›Geschichte der Dinosaurier‹ deine Weltanschauung?!«
»Gib mir die Flasche!«, befahl Darwin.
»Ich lasse nicht zu, dass die Buchhandlung angezündet wird!«
»Wir werden dich aus der Organisation ausschließen! Und zwar unehrenhaft!«
»Ihr könnt mich gernhaben!«
Lena lief davon, so schnell sie konnte. Den Molotow-Cocktail versteckte sie im Wohnheim unter ihrer Matratze. Sie dachte, er könnte vielleicht nützlich sein, falls sie in Zukunft doch noch etwas in die Luft sprengen müsste.
Am nächsten Tag zündeten die Guerilla-Revolutionäre die Buchhandlung tatsächlich an. Ganz ohne Lena. In die Fassade ritzten sie » OUN / UPA « für »Organisation Ukrainischer Nationalisten/Ukrainische Aufständische Armee«, und die Organisation mit dem gleichen Namen musste der Polizei beweisen, dass sie nichts mit dem Vorfall zu tun hatte. Die Buchhandlung wurde zwecks Renovierung bis auf Weiteres geschlossen.
Später wurde die orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats auf die gleiche Weise in Brand gesetzt. Der Pfarrer, der dort zufällig übernachtete, weil er nach der Abendmesse zu viel getrunken hatte, konnte sich nur mit knapper Not retten.
Lena ging nicht mehr zu den Treffen und beschloss, dass Gruppenaktivitäten für sie nicht mehr in Frage kamen. Sie war Individualistin und wollte von nun an selbstständig agieren.
In dieser Zeit lernte Lena zufällig einen Jamaikaner kennen, der in die Ukraine gekommen war, um Ukrainisch zu studieren. Zum ersten Mal betrat ein Schwarzer den heiligen Boden des ukrainischen San Francisco. Die Einwohner reckten die Hälse, wenn der Jamaikaner Brot holen ging. Kinder zeigten ungeniert mit dem Finger auf ihn, und die ganz Kleinen weinten vor Schreck und schrien: »Da kommt der Schwarze
Weitere Kostenlose Bücher