Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
bekannteste lautet: Glauben Sie nicht, ein »Hallo« sei intelligenter als ein »Wuff«.
Die Einwohner von San Francisco hatten zumeist Mitleid mit Lena. Sie lauschten und stimmten ihr zu, dass etwas getan werden musste. Es kam aber auch immer wieder zu Auseinandersetzungen. Die Querulanten ärgerte Lenas ständige Präsenz auf dem Hauptplatz. Solche Menschen ärgert generell fast alles, aber es ist für sie wichtig, ein lebendiges Ziel für ihre Gereiztheit zu finden. Andererseits war es nicht ganz unwahrscheinlich, dass das städtische Wohnungsamt, welches die streunenden Hunde einfing und gut daran verdiente, eine groß angelegte Gegenkampagne angezettelt hatte. Das Amt fürchtete anscheinend um seinen Hoheitsbereich.
Da kamen zum Beispiel hagere ältere Herren mit Schirmmütze, manchmal im bestickten Trachtenhemd, und sagten zu Lena:
»Was treibst du denn hier für dummes Zeug, Kind? Hast du nichts Besseres zu tun? Das Land steht vor dem Ruin, bald wird es von der Landkarte verschwunden sein, die Kommunisten haben’s wieder ins Parlament geschafft, und du hast nur die Hunde im Kopf.«
Es kamen auch nicht mehr ganz so junge Damen. Sie waren zumeist blond, trugen rote Halsketten und schwarze Stiefel mit Bleistiftabsätzen. Sie sagten zu Lena:
»Schämen Sie sich nicht? In der Ukraine leben so viele Kinder auf der Straße, unter der Brücke, die haben nichts zu essen, die schnüffeln Klebstoff, und Sie machen sich Sorgen um Hunde?! Erst einmal müssen wir Menschen in Würde leben, und erst dann die Tiere.«
Lena konnte es nicht ausstehen, wenn man ihr mit Kindern kam. Sie antwortete:
»In der Ukraine ist genug an Mitgefühl für alle da. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Ich kümmere mich um die Hunde und Sie sich um die Kinder.«
Weder die Herren mit den Schirmmützen noch die Damen mit den Halsketten gaben sich mit dieser Antwort zufrieden. Sie schlichen noch lange um Lena und ihre Papptafeln herum und dachten sich immer neue Gegenargumente aus. Bis Lena es nicht mehr aushielt und ihnen entgegenschrie:
»Was wollt ihr denn alle von mir? Geht euren eigenen Weg! Macht irgendwas! Schützt das, was ihr schützen wollt! Aber kämpft nicht gegen Leute, die das schützen, was ihnen wichtig ist! Was soll ich machen, mir ist der Staat egal! Die Kinder sind mir egal! Aber die Hunde und die Katzen sind mir nicht egal. Na und? Das ist mein gutes Recht.«
Hier bluffte Lena natürlich, denn in Wirklichkeit waren ihr das Land und die Kinder mitnichten egal. Allerdings war es, wie sie später sagte, nicht möglich, alles gleichzeitig zu schützen. Man müsse klein anfangen. Und wenn das Kleine erst einmal gerettet ist, kann es sein, dass das Große gar nicht mehr geschützt werden muss, weil niemand es mehr angreift.
Die Hundefänger – beim Wohnungsamt arbeiteten etwa zehn von ihnen – kamen ebenfalls zu Lena. Zuerst versuchten sie es mit der Mitleidstour. Sie sagten:
»Wie sollen wir unsere Kinder ernähren, wenn wir unseren Job verlieren?!«
Da Lena bei der Erwähnung von Kindern immer gleich abweisend reagierte, erkannten die Hundefänger sofort, dass sie bei ihr mit diesem schwülstigen Gerede nicht weit kommen würden.
Und dann wurde Lena zum ersten Mal zusammengeschlagen. Als sie eines Abends zum Studentenheim zurückging, wurde sie von zwei Männern in einen dunklen Hinterhof gezerrt, auf den Boden geworfen und in die Nieren getreten. Das Pappschild mit den »Regeln für das Zusammenleben mit Tieren« wurde in kleine Stücke zerfetzt. Während des gesamten Erziehungsvorgangs schwiegen die Angreifer und atmeten schwer. Zum Schluss, als Lena fast bewusstlos dalag, versprach einer der beiden Männer:
»Wenn du nicht aufhörst, machen wir dich kalt.«
Zum zweiten Mal wurde Lena nach ihrem Auftritt beim Stadtradio verprügelt. Das Ganze ereignete sich im Spätherbst, genau an dem Tag vor der nächsten planmäßigen Attacke des Wohnungsamts. Lena hatte im Radio über die Aktion informiert und die Stadtbewohner dazu aufgerufen, sich in der Nacht nicht schlafen zu legen, sondern auf der Straße Wache zu halten, und erstaunlich viele folgten ihrem Aufruf. Lena selbst passte den Wagen der Hundefänger ab und zerstach die Reifen mit einem Nagel.
Sie wurde dann nicht mehr nur in die Nieren getreten, sondern am ganzen Körper, und nicht in einem menschenleeren Hinterhof, sondern mitten auf der Straße am helllichten Tag. Es waren vier Angreifer. Ihre Gesichter versteckten sie unter Kapuzen. Keiner der vielen
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