Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
gebe ich Ihnen recht, aber in China ist es ganz üblich …«
»Na, dann sollen sie doch ihre eigenen Hunde essen! Aber die ukrainischen sollen sie in Ruhe lassen!«
»Beruhigen Sie sich bitte. Verstehen Sie, dass die Stadt auf diese … vielleicht etwas merkwürdige Weise … eigentlich gewonnen hat. Sie und ich haben gewonnen«, fügte die Beamtin zum besseren Verständnis hinzu.
»Ich will aber nicht auf diese Art gewinnen! Da verliere ich lieber!«
»Sie haben ohnehin verloren. Demokratie ist die Meinung der Mehrheit. Und Sie sind in der Minderheit. Finden Sie sich ab damit. Gehen Sie nach Hause und entspannen Sie sich.«
»Sie Kanaille!«, rief Lena – sie verwendete diesen Ausdruck zum ersten Mal in ihrem Leben.
»Ich würde mich an Ihrer Stelle vorsichtiger ausdrücken. In der Ukraine gibt es Gerichte …«
»Glauben Sie, ich habe Angst vor euren Gerichten?«, knurrte Lena beim Verlassen des Büros, das, nebenbei bemerkt, mit billigen Landschaftsgemälden à la »Herbst im Birkenhain« geschmückt war. Sie hatte wirklich keine Angst vor Gerichten, und zwar deshalb, weil sie noch nie eines von innen gesehen hatte.
Man weiß nicht, ob Bohdana Iwaniwna plötzlich ein schlechtes Gewissen bekam oder ob sie – im Gegenteil – Lena ein schlechtes Gewissen machen wollte, jedenfalls sagte die Beamtin, als Lena schon fast draußen war:
»Und finden Sie es normal, Hunde einzufangen, wie es das Wohnungsamt offiziell macht, und die Kadaver dann in den Müll zu werfen?! Das regt Sie nicht auf? Für mich besteht da überhaupt kein Unterschied.«
»Einfangen?«, Lena war verwirrt. »Kadaver? Müll?«
»Na, jetzt tun Sie doch nicht so scheinheilig!«
»Ich habe das nicht gewusst.«
»Ja sicher! Weil Sie da schlafen wie ein Baby. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß!«
Die Empfangssekretärin verabschiedete sich teilnahmsvoll von Lena. Wie sich später herausstellte, fütterte sie selbst regelmäßig drei Straßenköter. Die Sekretärin kümmerte sich nicht aus ideologischen Beweggründen um sie, sondern aus einer Gefühlslage, die jemand einmal so definiert hat: »Wir sind sentimental und doch gemein.« Als ihre drei Schützlinge eines Tages spurlos verschwanden, zuckte die Sekretärin mit den Schultern und lebte ihr Leben einfach weiter.
Doch Lena konnte das nicht.
Im »Goldfisch«, wo man sie zum Glück nicht wiedererkannte, schrieb sie noch am gleichen Abend bei einem Bier einen Text, welcher der bekannteste in ihrer Laufbahn als Tierschützerin werden sollte. Er hieß »Manifest eines Hundes für andere Hunde« und wurde sogar in der regionalen Literaturzeitschrift »Donnerstag« als literarischer Beitrag abgedruckt.
Das Manifest begann mit den folgenden Worten: »Hunde, wir müssen zusammenhalten! Wir dürfen uns nicht fressen lassen!«
Lena beschloss, die Sache auf eigene Faust durchzuziehen. Sie hatte einen einfachen 3-Säulen-Plan: Transparenz, Subversion, Propaganda. Diese drei Mittel würden im Kampf gegen das System am besten funktionieren, davon war Lena überzeugt. Sie sagte: Ich kann nicht aufgeben, denn die Gerechtigkeit hat noch keiner abgeschafft. Ja, die Welt ist grausam, hier gibt es Betrug, Folter und Mord, ich kann das nicht ändern und möchte es auch gar nicht. Ich möchte mich selbst ändern. Aber ich kann es nicht, solange ich diesen schrecklichen Beigeschmack von Hundefleisch im Mund habe.
Lena stürzte sich kopfüber in die Mission »Straßenhunde«. Sie fand heraus, dass sich die Zahl der Streuner umgekehrt proportional zum menschlichen Verantwortungsgefühl verhielt. Die Stadtbewohner legten sich Welpen zu, die sie dann aus irgendwelchen persönlichen Gründen wieder aussetzten: Die einen mögen nicht, wie sie bellen oder dass sie zu viel fressen, manchen anderen wurde die falsche Rasse untergejubelt, und wieder andere waren einfach zu faul, jeden Morgen mit ihrem Hund rauszugehen. Darauf sollte es gesalzene Strafen geben, sagte Lena, denn nur durch Bestrafung kann man verantwortungslose Menschen zur Ordnung erziehen. Die Stadt gehört allen. Wenn man einen Hund aussetzt, schadet man anderen, man verletzt ihre Rechte. Ganz zu schweigen von den Hunden, die ein unabdingbares Recht auf ihre Herrchen haben sollten.
Allerdings kamen ukrainische Hunde in der ukrainischen Gesetzgebung gar nicht vor. Sie wurden zu den »beweglichen Sachen« gezählt, wie zum Beispiel eine Kommode oder ein Reisekoffer. Nicht einmal wie ein Fahrrad wurden sie behandelt, denn ein Fahrrad ist ein
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