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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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»Fahrzeug«.
    »Die Menschenrechte«, sagte Lena später, »bedeuten völlige Rechtlosigkeit für alle übrigen Lebewesen.«
    Und noch etwas: Gefährlich sind jene Straßenhunde, die in zweiter oder dritter Generation zur Welt kommen. Sie erinnern sich nicht mehr an ihre Bestimmung, einem Herrchen zu gehorchen. Sie sind ihre eigenen Herren. Mehr noch, sie hassen den Menschen, weil er sie verraten hat. Der Sinn ihres Lebens besteht darin, um jeden Preis zu überleben und sich zu rächen. Gewalt, sagte Lena, sei natürlich keine Lösung, aber man müsse sich bewusst machen, dass die Hunde diesen Krieg nicht angefangen haben. Die Tiere fangen einen Krieg nie als Erste an.
    Binnen einer Nacht beklebte Lena die ganze Stadt mit Plakaten: »Geben Sie keine Hunde an China-Restaurants. Hunde schmecken nicht gut.« Darunter fand sich eine kurze Beschreibung der Geschichte des chinesisch-ukrainischen Business und die Adresse, an der die Tiere angenommen wurden. Und es gab auch Fotos von besonders fleißigen Jägern.
    Das Thema wurde augenblicklich von den Medien aufgegriffen. Zwar nicht aus Mitgefühl für die Hunde, sondern weil die ganze Geschichte so skurril war. Journalisten reisten aus der Hauptstadt nach San Francisco. Sie filmten die Menschenschlange beim verlassenen Lager, zeichneten das Geheul der gefangenen Tiere auf und erwischten sogar einen Mitarbeiter des chinesischen Business von hinten. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Alle landesweiten Fernsehsender berichteten über die Streuner von San Francisco. Der Polizeichef der Stadt beteuerte, niemals von dem chinesischen Business gehört zu haben, und versprach, radikal dagegen vorzugehen. Der Landespolizeichef versprach, alle China-Restaurants gründlich kontrollieren zu lassen. Auschlaggebend war hier vermutlich nicht das Schicksal der armen Tiere, sondern die latente Abneigung der Ukrainer gegenüber Asiaten und der asiatischen Kultur.
    Zwei Wochen später war das chinesische Business zerschlagen und zwei Kiewer China-Restaurants wurden geschlossen.
    »Gut so«, schrieb Lena in ihrem Tagebuch, »man muss Hühnerfleisch essen.«
    Sie gab Unmengen von Interviews. Damals wurde sie so berühmt wie nie wieder in ihrem Leben. Zu ihren Erfahrungen mit der Polizei und der Stadtverwaltung äußerte sich Lena nicht, weil sie der Meinung war, das sei nicht mehr so wichtig. Die Regierungen sind überall gleich verlogen. Die Aufgabe der Öffentlichkeit bestand darin, den Machthabern beizubringen, ihre Verlogenheit zu verbergen. Und Angst zu haben. Denn nur verängstigte Machthaber arbeiten für das Volk.
    Lena wurde sogar nach Kiew eingeladen, um in der populären Live-Morgenshow »Wach auf, Ukraine!« aufzutreten. Der Moderator bezeichnete Lena als die ukrainische Jeanne d’Arc, und Lena musste lachen. Sie sagte, sie wolle keine Jeanne d’Arc sein, sondern ein normaler Mensch. Auf die pathetische Frage »Was bedeutet es, ein normaler Mensch zu sein?«, antwortete sie:
    »Das bedeutet das Gleiche, wie ein normaler Hund zu sein. Sie verstehen doch, was ein normaler Hund ist?«
    Der Moderator nickte zustimmend.
    »Na, sehen Sie«, sagte Lena, »und warum verstehen Sie dann nicht, was ein normaler Mensch ist?«
    Der Moderator veröffentlichte vor Kurzem ein Buch mit Erinnerungen, in dem er ein ganzes Kapitel der Sendung »Wach auf, Ukraine!« widmete. Darin beschreibt er auch Lenas Auftritt und gibt zu: »Eigentlich wusste ich nicht, was ein normaler Hund ist.«
    Lena nutzte ihre plötzliche Berühmtheit, um Aufklärungsarbeit zu leisten. Sie stand den ganzen Tag auf dem Rathausplatz von San Francisco und rief die Menschen dazu auf, nicht gleichgültig zu sein und sich für die Rechte der Vierbeiner einzusetzen. Sie hatte immer ein großes Pappschild dabei, auf dem die »Regeln für das Zusammenleben mit Tieren« aufgeführt waren. Das sah so aus:
    Regel Nr. 1: Setzen Sie Ihr Haustier nicht aus.
    Regel Nr. 2: Falls Sie nicht sicher sind, ob Sie es vielleicht doch aussetzen, schaffen Sie es gar nicht erst an. Kaufen Sie lieber einen Kaktus.
    Regel Nr. 3: Falls Sie wirklich ein Haustier möchten, nehmen Sie eines von der Straße. Es wartet auf Sie und wird Sie für Ihre Güte innig lieben – und was wollen Sie von einem Haustier mehr?
    Regel Nr. 4: Wenn Sie mitbekommen, dass jemand ein Tier misshandelt, dann schlagen Sie zu. Der Quäler wird Ihnen nichts tun, weil nur riesengroße Feiglinge Tiere quälen.
    Lena hatte Hunderte ähnlicher Regeln formuliert. Die

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