Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
Augenzeugen ging dazwischen. Die Leute blickten kleinmütig und feige weg und hasteten vorbei. Dabei dachten sie vermutlich an die Kinder, die nichts zu essen hatten.
Nach der Schlägerei schleppte Lena sich mit letzter Kraft zum Studentenheim und schloss sich lange in der Dusche ein. Im Spiegel betrachtete sie ihren grün und blau geschlagenen Körper und dachte an diejenigen, die dieses Kunstwerk geschaffen hatten. Ich kann einfach nicht verstehen, sagte sie später, dass man jemanden zusammenschlägt, weil er dich daran hindert, Tiere umzubringen. Es ist irgendwie unlogisch und falsch, wenn man andere prügelt, nur um töten zu können.
Was danach passierte, ist nirgendwo dokumentiert und basiert ausschließlich auf Gerüchten. Man könnte das Vorgefallene wie folgt rekonstruieren:
Spät an einem Freitagabend ging Lena in den Boxclub »Wunderblume«. Der Club gehörte formal zur Universität. Dort trainierten jeden Freitag Lenas Kommilitonen, die Studenten der Sportfakultät. In Wahrheit gehörte der Club einem der berühmtesten Gangsterbosse in der Geschichte von San Francisco. Er führte den Beinamen »Mönch«.
Lena ging also hinein und sagte zum Cheftrainer:
»Ich möchte den Mönch sprechen. Wo finde ich ihn?«
Nur wenige begegneten dem Mönch persönlich, aber alle hatten von ihm gehört und fürchteten ihn. Er hatte, wie die meisten Gangster zu Beginn der Neunzigerjahre, mit Schutzgelderpressung und kleineren Raubüberfällen angefangen. Später brachte er allmählich die Märkte unter seine Kontrolle und bereits Ende der Neunziger war das gesamte Wodka-Business der Stadt in seiner Hand.
Der Mönch, so munkelte man, sei grausam, hätte aber seine Prinzipien. Einerseits belieferte er San Francisco mit gepanschtem Wodka, andererseits hielt er den Drogen- und Menschenhandel von der Stadt fern. Der Mönch sagte, Wodka sei ein Indikator für die moralische und materielle Situation der Gesellschaft. Man trinkt Wodka nicht, weil er da ist, sondern weil nichts anderes da ist: keine Arbeit, kein Glaube, keine Zukunft. Wenn eines von den dreien wieder da ist, wird man keinen Wodka mehr trinken. Aus diesem Grund betrachtete der Mönch seine Tätigkeit nicht als Sünde – und als Hüter des Heiligen in einer finsteren, gottlosen Zwischenzeit kam er auch zu seinem Namen. Er soll in der Stadt mehrere Kirchen errichtet haben, die er oft inkognito besuchte, um im Chor mitzusingen. Er sang gern. Man erzählte sich auch, nicht der Mönch ginge zu den Priestern beichten, sondern umgekehrt.
In der städtischen Spirituosenfabrik stellte man zu Ehren des Mönchs bis vor Kurzem noch einen gleichnamigen sechzigprozentigen Kräuterlikör her. Er war von bräunlich-roter Farbe und roch herb, vermutlich nach Schlehen. Das Rezept war streng geheim. Die Produktion wurde an dem Tag eingestellt, als der Mönch zusammen mit dem Boxclub »Wunderblume« bei einer Explosion ungeklärten Ursprungs in die Luft flog.
Der Cheftrainer des Boxclubs, der auch Boss der Security des Mönchs war, hörte Lenas Ansinnen und staunte ungläubig.
»Bist du lebensmüde?«, fragte er sie.
»Nein, ganz im Gegenteil. Ich will leben, wirklich«, sagte Lena. Sie zog ihr Oberteil aus und zeigte dem Trainer ihren mit blauen Flecken übersäten Rücken.
»Oha, wer hat dich so zugerichtet?«
»Es gibt nette Leute. Lassen Sie mich bitte mit dem Mönch reden. Höchstens fünf Minuten.«
»Du kannst mit mir reden«, sagte der Trainer, »der Mönch nimmt keine Beschwerden aus der Bevölkerung entgegen.«
»Ich will mich nicht beschweren. Ich habe ein Anliegen.«
»Sprich oder verschwinde!«
Da ging die Tür zum Nebenraum plötzlich auf und eine heisere, etwas unheimliche Stimme drang hinaus: »Sie soll reinkommen.«
Der Mönch nahm tatsächlich keine Beschwerden aus der Bevölkerung entgegen, aber manchmal, wenn ihm langweilig war, machte er eine Ausnahme, was er mit momentaner guter Laune und der Verbesserung seines Karmas begründete.
Lena betrat das Geheimzimmer. Der Mönch saß in einer dunklen Ecke in Gesellschaft von vier Schlägertypen. Sein Gesicht war nicht zu sehen. Als Lena zum Sprechen ansetzte, begann ihre Stimme zu zittern.
»Guten Tag. Ich heiße Lena.«
Der Mönch schwieg.
»Und Sie sind der Mönch. Ich habe viel über Sie gehört. Sie töten Menschen und machen andere zu Säufern.«
Der Mönch lachte leise auf und machte sich in seinem Sessel breit. Seine stadtbekannten Goldzähne blitzten im Dunkeln auf. Man erzählte, der
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