Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
Vom Netzwerk:
Früher konnte man ganz einfach schreiben: »Schwarzer vergnügt sich mit zwei Studentinnen« oder »Lesben am Strand«, und die Leute waren schon heiß aufs Glotzen. Mittlerweile muss man sich schon neuere, härtere Sachen einfallen lassen. Die Leute haben sich an Schwarze und Lesben gewöhnt. Manchmal ekelt’s mich selber, echt.«
    Lena ekelte sich nicht. Sie kannte sich generell wenig mit Computern aus, und mit Pornos schon gar nicht.
    »Gut, dass Sie jemanden haben, der sich um Sie kümmert. Ihre Eltern haben eine Pflegerin eingestellt«, sagte sie.
    »Haben sie. Sie kümmert sich schon seit fünf Jahren um mich. Vor zwei Jahren haben wir geheiratet.«
    Die Schwester kicherte.
    »Als ich Anton zum ersten Mal getroffen habe, wusste ich sofort, dass wir seelenverwandt sind. Sie sehen ja, er witzelt immer, verliert nie den Mut. Wir haben uns immer viel zu erzählen. Er liegt und wird liegen bleiben, und trotzdem ist er der beste Mann, den ich je kennenlernen durfte. Ein Mann muss nicht gehen können, um ein Mann zu sein.«
    Solche Geschichten gibt’s, sagte Lena später nachdenklich.
    Aber es gab da auch ganz andere Geschichten.
    In der Regel saßen Behinderte, vor allem jene, die nicht gehen konnten, jahrelang in ihrer Wohnung, vorzugsweise im sechsten oder siebten Stock, und schauten aus dem Fenster. Auf die Straße konnten sie nicht, weil ihr Rollstuhl nicht in den Aufzug hineinpasste, falls es überhaupt einen Aufzug gab, was ganz und gar nicht selbstverständlich war. Falls der Rollstuhl in den Aufzug passte, konnte er immer noch im engen Türrahmen des Hauseingangs stecken bleiben. Also mussten der Behinderte und der Rollstuhl einzeln aus dem Haus getragen werden. Natürlich kam es vor – und das war leider eher die Regel als die Ausnahme –, dass der Behinderte keine Betreuer hatte, außer einer altersschwachen Mutter. Deshalb war er gezwungen, zu Hause zu hocken und darauf zu hoffen, dass sich ab und zu jemand seiner erbarmte. Er konnte Freunde, entfernte Verwandte oder seine Nachbarn bitten, ihn für eine Spazierfahrt hinunterzutragen und danach wieder nach Hause zu bringen.
    Es kam vor, dass der Behinderte Glück mit seinem Haus hatte und ein breiter Lift sowie eine breite Eingangstür vorhanden waren. Dann konnte der Behinderte mit seinem Rollstuhl selbst nach unten gelangen. Aber auch diese Glückspilze kamen nicht weit, denn schon nach zwei, drei Metern wartete eine hinterhältige Überraschung in Form einer gewöhnlichen Gehsteigkante auf sie. Egal, wie hoch oder niedrig sie sich präsentierte, sie genügte in jedem Fall, um den nach Jahren des nervenaufreibenden Wartens endlich erhaltenen Rollstuhl zu beschädigen. Oder ihn zu kippen und mitsamt seinem Besitzer auf den Asphalt zu werfen. Die Adrenalinjunkies unter den Rollstuhlfahrern lernten mit der Zeit, diese Hindernisse, die Zweibeinern gar nicht bewusst sind, zu überwinden. Andere warteten auf hilfsbereite Passanten, die ihnen freundlicherweise über die Kante halfen. Diese Hilfe taugte aber nicht lange, denn schon ein paar Meter weiter wartete die nächste Überraschung – in Form einer weiteren Gehsteigkante.
    Dann doch lieber zu Hause sitzen und aus dem Fenster schauen.
    Es wurde behauptet, es gebe keine Rollstuhlrampen in der Stadt, weil sie den Bau von Straßen und Gehsteigen enorm verteuern würden. Außerdem wurde gemauschelt, dass man Behinderte in der Sowjetunion durch den Verzicht auf Hilfsmaßnahmen vorsätzlich von den Straßen ferngehalten hatte. Damit sie zu Hause sitzen blieben und niemand sie zu Gesicht bekäme, vor allem keine ausländischen Journalisten. Denn in der Sowjetunion gab es weder Sex noch Behinderte. Hier lebten ausschließlich körperlich gesunde, asexuelle Menschen.
    Vor Kurzem wurde in San Francisco ein Sozialdienst eingerichtet, der den Rollstuhlfahrern hilft, ihren knapp unter dem Himmelszelt liegenden Gefängnissen zu entkommen, um eine Spazierfahrt oder einen Arztbesuch zu erledigen oder einem von Zigtausenden menschlichen Bedürfnissen nachzukommen. Dieser Sozialdienst funktioniert ein bisschen wie ein Rettungseinsatz. Vier Muskelprotze stehen vor der Tür. Zwei greifen dem Behinderten unter die Arme, zwei tragen seinen Rollstuhl. Dieser Service kostet eine halbe Invalidenrente. In einem Monat kann man bei Inanspruchnahme des Dienstes zweimal das Haus verlassen, sofern man das Essen einstellt und kein Geld für Wohnen oder ärztliche Behandlungen ausgibt. Manche Behinderte opfern tatsächlich alles für

Weitere Kostenlose Bücher