Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
zufrieden?«
Andere wiederum verteidigen leidenschaftlich drei Bäume, die auf einer Grünfläche stehen und gefällt werden sollen, weil an der Stelle von Bäumen und Wiese ein Neubau entstehen soll. Die Baumretter erzählen allen, wie sie als Kinder im kühlen Schatten dieser Gehölze gespielt haben, ketten sich an die Baumstämme, bleiben aus Angst vor nächtlichen Angriffen wach und schlagen Nägel in die Baumrinde, um die Motorsägen der Bauarbeiter zu beschädigen. Ein solcher Kampf ist nur zum Teil sinnvoll. Denn eine Stadt kann nicht auf ewig die Stadt deiner Kindheit bleiben. Eine Stadt wächst und verändert sich und hält sich dabei nicht an die Vorgaben der Natur. Wenn diese drei Bäume nicht fallen, dann fallen eben zehn andere. Aber die anderen zehn Bäume sind den Menschen mit dem Helden- bzw. Rettersyndrom unwichtig. Alle Bäume sind ihnen unwichtig, es geht nur um ihren Kampf, denn solange sie sich gegen etwas auflehnen, sind sie mittendrin im sozialen Geschehen und können sich mit dem Gedanken trösten, dass sie den Lauf der Geschichte mitbestimmen. An ihrem Lebensabend werden diese Helden dann nicht müde, über ihren großen Beitrag zur Geschichte und über ihren großen Kampf zu erzählen, ganz wie echte Kriegsveteranen, die ausschließlich über Schützengräben und Heldentaten zu berichten wissen. Wenn Sie einem Veteranen versehentlich sagen: »Aber ein Krieg ist doch sinnlos«, wird er wütend und verletzt sein, denn das hieße, dass seine Schützengräben und Heldentaten genauso sinnlos waren.
So weit die Hypothese, die der Verfasser in seinem Artikel vertrat.
Lena und ihr Verhalten fügten sich nahtlos in sein theoretisches Grundgerüst ein. Sie wollte nur geliebt werden, wiederholte der junge Psychologe immer wieder. Deshalb hat sie dieses ganze Durcheinander mit den Straßenhunden und später auch mit den Behinderten überhaupt erst angefangen.
W. Tschubenko suchte sogar Lenas Eltern auf, um ihnen die Abwegigkeit ihrer Erziehung klarzumachen und ihnen vorzuwerfen, mit welchen Traumata sie die kindliche Psyche ihrer Tochter vollgestopft hätten, was in weiterer Folge offensichtlich zu schweren psychischen Störungen geführt habe.
Die Eltern wiederholten zu ihrer Rechtfertigung nur:
»Wir haben sie so geliebt, wie andere Eltern ihre Kinder auch lieben. Wir haben sie einfach geliebt.«
Lenas Privatleben und ihre Beziehungen zu Männern waren für W. Tschubenko bloß eine weitere Bestätigung seiner Thesen. Insgesamt war Lena fünf bis sechs Beziehungen eingegangen – und keine davon hielt länger als ein paar Monate. Meistens liefen die Männer davon, weil Lena von ihnen ununterbrochen bedingungslose Liebesbekundungen einforderte. Die Männer mussten mindestens dreimal am Tag versichern, wie sehr sie Lena liebten und dass sie Lena bis ans Ende ihrer Tage grenzenlos lieben würden. Über dieses Thema ließ sich auch ihr Ex-Freund und Kommilitone aus, der Volleyballer des Regionalteams K. Er sagte:
»Sie hat mich komplett fertiggemacht mit ihrer Liebe.«
»Und haben Sie Lena geliebt?«, fragte W. Tschubenko.
»Woher soll ich das wissen?!«, antwortete der Sportler.
Ein anderer Ex-Freund, ein ehemaliger Skifahrer, der nun bei einer kleinen Versicherungsfirma angestellt ist, gab offen zu, Lena nie geliebt zu haben, weil sie »eine war, die man gar nicht lieben kann«.
Der dritte wollte anonym bleiben. Er bekundete, er habe nie daran gezweifelt, »dass Lena ein Trampel ist und scheiße enden wird. Solche wie sie muss man schon im Kindesalter von der Gesellschaft isolieren.«
Lenas ehemalige Mitbewohnerin Wassylyna brach ihm zwei Rippen.
Am längsten war Lena mit Pawlo, dem Yogi, liiert, den sie bei ihrer Suche nach dem großen Wunder kennengelernt hatte. Nach dem misslungenen ersten Date liefen sie einander wieder über den Weg. Da arbeitete Lena bereits im »Goldfisch«. Pawlo, der Yogi, kam eines Abends vorbei und bestellte einen Wodka und einen Apfelsaft. Er erkannte Lena nicht. Umgekehrt konnte Lena sich noch sehr gut an ihn erinnern. Sie machte eine spitze Bemerkung:
»Oh nein, wie kommt’s, dass einer aus dem Nirwana so tief sinkt und irdischen Gelüsten frönt?«
Mit saurer Miene leerte der Yogi seine beiden Gläser und verließ die Kneipe. Am nächsten Abend kam er wieder und bestellte das Gleiche. Er fragte Lena schnippisch:
»Na, hast du deine geheimnisvolle fliegende Frau, die unglückliche Menschen rettet, schon gefunden?«
»Die existiert nicht«, maulte
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