Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
Jahren!«
»In dieser Angelegenheit hat die Kommission ihre Arbeit abgeschlossen. Ich bitte Sie, den Sitzungsraum zu verlassen.«
»Moment!«, schrie Lena, während Hund leise weinte. »Sie finden also, dass sie gar nicht behindert ist und gehen und arbeiten kann? Das meinen Sie im Ernst?«
Der Kommissionsvorsitzende, ein eher kräftiger Mann mit grauen Schläfen, kam hinter dem Tisch hervor, um Lena hinauszubegleiten.
»Machen Sie bitte kein Theater! In einem Jahr können Sie die Dokumente wieder einreichen. Verlassen Sie den Sitzungsraum!«
»Ich werde gehen«, sagte Lena, »und meine Freundin, die das ja Ihrer Meinung auch kann, soll es doch selbstständig versuchen!«
Lena stürmte aus dem Zimmer und ließ Hund tränenüberströmt auf dem Kommissionsstuhl sitzen. Die Kommissionsmitglieder liefen Lena hinterher.
»Nehmen Sie Ihre Freundin mit! Was sollen wir mit ihr machen?!«
»Sie soll selbst gehen! Sie kann’s ja!«, rief Lena ihnen aus dem Treppenhaus zu. »Sie haben das gesagt, nicht ich!«
Später plagte Lena das schlechte Gewissen. Sie behauptete, sie hätte Hund nur deshalb im Stich gelassen, um den »Unmenschen« eine Lektion zu erteilen. Sie wollte ihnen beweisen, dass sie sich in ihrer Entscheidung geirrt hatten und sie revidieren mussten. Ich habe aus dem Moment heraus gehandelt, sagte Lena, ich habe nicht daran gedacht, wie das Ganze enden könnte.
Geendet hatte es so, dass die wissenschaftliche Kommissionssekretärin ein Taxi rief, zwei Wachleute Hund auf Händen nach unten trugen, sie ins Auto setzten und dem Fahrer sagten, er solle mit ihr wegfahren. Sie gaben ihr natürlich kein Geld fürs Taxi. Lena musste die Fahrt selbst bezahlen, da der Taxifahrer drohte, sonst den Fernseher und den Föhn mitzunehmen.
In den nachfolgenden Wochen entschuldigte Hund sich immer wieder bei Lena. Vermutlich, um selbst verzeihen zu können. Das ist manchmal einfacher. Sich zu entschuldigen, um selbst zu verzeihen.
»Wir werden einen anderen Weg finden«, beruhigte Lena Hund und sich selbst, »wir müssen uns die Gerechtigkeit erkämpfen. Mach dir keine Sorgen, Hund, unser kleiner Krieg steht noch bevor.«
Lena machte den Arzt ausfindig, der Hund die Diagnose gestellt hatte, und kündigte ihm an, sie komme in einer wichtigen Angelegenheit. Der Arzt war überraschend freundlich und bot ihr sogar Kaffee an.
Diese Freundlichkeit seitens der Mitarbeiter staatlicher Einrichtungen, sagte Lena später, ist schlimmer als das Zischen von einhundert Giftschlangen. Wo lernt man dieses aufgesetzte Lächeln und diese gespielte Höflichkeit? Wo werden diese seelenlosen Heuchler nur produziert?
»Wir kennen uns doch, nicht wahr?«, fragte der Arzt Lena mit einem Lächeln.
»Nein, wir sehen uns zum ersten Mal. Verstehen Sie …«
»Nein, ich bin mir sicher, dass wir uns schon einmal getroffen haben.«
»Sie irren sich. Vor zwei Jahren hatten Sie eine Patientin, meine Freundin, welche vor Kälte das Gefühl in den Beinen verloren hat.«
Der Arzt stützte sich auf eine Armlehne und legte eine kurze Denkpause ein.
»Hmmja … Ich erinnere mich«, gab er zu. »Sehr merkwürdiger Fall. Sind Sie mit ihr verwandt?«
»Nein, nicht verwandt, aber ich kümmere mich um sie.«
»Und? Kann sie gehen?«
»Nein. Sie sitzt die ganze Zeit nur.«
»Na ja, das kann schon vorkommen …«
»Kann vorkommen? Sie haben in Ihrem Gutachten geschrieben, dass das nicht passieren kann.«
Der Arzt lächelte wieder, diesmal nicht freundlich, sondern verschlagen.
»Kann nicht passieren, aber kommt vor. Es passieren oft Dinge auf der Welt, die wir nicht verstehen können.«
»Dann haben Sie weiters geschrieben, dass Sie eine OP anraten, die Patientin aber abgelehnt hat«, fuhr Lena fort.
»Das stimmt, aber eine OP hätte nichts gebracht. Von meinem ärztlichen Standpunkt aus wird das Mädchen nie mehr gehen können.«
»Warum empfehlen Sie dann überhaupt einen Eingriff?! Und warum schreiben Sie in das Gutachten hinein, sie hätte abgelehnt und ist folglich selber schuld, dass sie nicht gehen kann!«
»Wir haben unsere Vorschriften. Wir müssen den Patienten Optionen vorschlagen, die ihnen vielleicht helfen könnten, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit sehr gering ist.«
»Was bilden Sie sich eigentlich ein?! Sie wollten fünftausend Hrywnja für eine OP, die nichts gebracht hätte!«
»Das ist eine Lüge. Die medizinische Versorgung ist in der Ukraine kostenlos.«
»Ihretwegen«, brauste Lena auf, »wollte uns die medizinische
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