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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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Kommission die erste Invaliditätsstufe nicht bewilligen.«
    Die Maske der gespielten Freundlichkeit fiel langsam vom Gesicht des Gottes in Weiß ab.
    »Wieso meinetwegen? Wissen Sie, wie viele Leute Invalidität beantragen? Wenn die Kommission sie allen zugestehen würde, wäre die ganze Stadt voll mit Invaliden.«
    »Sie kann aber nicht gehen! Sie kann nicht alleine aufs Klo! Sie schaut den ganzen Tag beim Fenster hinaus und weint! Sie hat kein Geld, ihrer Familie ist sie komplett egal, und Sie reden irgendwas von einer ganzen Stadt von Invaliden?!«
    »Einen Augenblick! Warum geht sie im Winter stundenlang im Wald spazieren? Wer hat sie gezwungen?«
    »Ach, Sie erinnern sich also doch ganz genau!«, empörte sich Lena. »Aber Sie vergessen, dass Staatsangestellte wie Sie ihr nicht geholfen und ihr keinen Unterschlupf gewährt haben, als sie nicht wusste wohin! Sie warfen meine Freundin hinaus, damit sie im Wald erfriert!«
    Der Arzt stoppte Lena:
    »Warum sind Sie zu mir gekommen?«
    »Ich will, dass Sie Ihr Gutachten ändern. Wir werden den Beschluss anfechten.«
    Da lächelte der Arzt erneut. Lena wurde misstrauisch. Er schnurrte:
    »Sie müssen nichts anfechten. Ich kann das regeln.«
    »Wirklich?«
    In diesem kurzen Moment lebte Lenas Hoffnung wieder auf. Allerdings nicht für lange.
    »Sie bekommt die erste Stufe. Ich kann das alles organisieren. Das kostet aber ein bisschen was.«
    Lena schwieg.
    »Sie müssen verstehen«, der Arzt war jovial, »heute muss man für alles bezahlen. Die Invalidität wird in der Regel beantragt, um keine Steuern zahlen zu müssen und um Autos aus dem Ausland zollfrei einführen zu können. Pro Auto kann man da allein schon ein paar Tausend Dollar sparen.«
    »Wovon reden Sie? Welches Auto? Ich brauche einen Rollstuhl, damit meine Freundin halbwegs mobil sein kann …«
    »Ich habe doch gesagt, dass ich das machen kann, also mach ich’s. Fünftausend Hrywnja.«
    »Sie haben offenbar einen Einheitstarif!«
    »Das ist nicht viel«, rechtfertigte sich der Arzt, »sie wird das Geld in ein, zwei Jahren Invaliditätsrente zurückbekommen. Allerspätestens in zwei, drei Jahren ist alles wieder drin. Die Invalidität beantragen wir auf Lebenszeit. Stellen Sie sich einmal vor, wie viel Sie sparen können! Ein Rollstuhl ist dabei, Behandlungen sind dabei, verschiedenste Vergünstigungen, gratis Telefonanschluss, Kuren am Schwarzen Meer oder in Slowjansk, da kann sie Heilwasser trinken – auch nicht übel. Alles inklusive, sozusagen.«
    »Wenn ich so viel Geld hätte, würde ich ihr selbst einen Rollstuhl kaufen.«
    »Für den Betrag suchen Sie aber lange. Höchstens gebraucht …«
    Lena sagte:
    »Hören Sie, da spare ich lieber, damit Sie sich Ihre eigene Invaliditätsbestätigung kaufen können. Sie haben eine viel schlimmere Behinderung. Sie sind herzamputiert. Oder wie nennt man das bei euch? Herzstumpf?«
    »Raus aus meiner Praxis«, zischte der Arzt wie hundert Giftschlangen.
    Gleich danach schrieb Lena während ihrer Nachtschicht im »Goldfisch« ihr zweites Manifest mit dem Titel »An die Behinderten von einer Behinderten«. Es begann so: »Ich habe keine Beine, aber ihr habt kein Herz.« Im Gegensatz zum ersten Manifest wurde dieser Text nirgendwo veröffentlicht. Die Literaturzeitschrift »Donnerstag« war aufgrund von Finanzierungsschwierigkeiten inzwischen eingestellt worden und die lokalen Zeitungen wollten Lenas Manifest und ihre weiteren zwei Artikel keinesfalls abdrucken, da das Thema Behinderung angeblich die Leser verschreckte.
    Verstehen Sie uns nicht falsch, sagte man Lena in einer Redaktion, die Menschen sind müde und enttäuscht. Sie erwarten sich von einer Zeitung positive Nachrichten. Behinderung hat aber nichts Positives an sich. Das ist eher ein Tabuthema. Die Leute haben jetzt mehr Angst vor einer Behinderung als vor dem Tod. Und außerdem: Wieso sollten gesunde Menschen über Kranke lesen wollen? Warum sollten sie mit irgendwem Mitleid haben? Nur zur Info, die Hauptursachen für Behinderungen sind heutzutage Autounfälle durch Alkohol am Steuer und Unfälle bei Sprüngen ins Wasser, zum Beispiel wenn man auf einem Stein aufschlägt. Niemand trägt Schuld, dass Menschen, die so verunfallen, zu Behinderten werden. Sie haben sich das selbst zuzuschreiben, wenn sie so dumm sind.
    »Behinderte wollen kein Mitleid«, antwortete Lena. »Sie sind so geworden, weil sie dumm waren oder ganz einfach Pech hatten. Und das ist ihr persönliches Unglück und das ihrer

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