Biografie eines zufälligen Wunders - Roman
diesen auf den ersten Blick sonderbar anmutenden Luxus.
Lena sagte:
»Meine Freundin kann seit zwei Jahren nicht mehr gehen. Sie braucht einen Rollstuhl. In der Abteilung für Sozialfürsorge hat man uns gesagt, dass sie einen bekommt, aber erst nachdem sie einer Invaliditätsstufe zugeteilt wurde. Wir haben die Papiere eingereicht und eine Absage erhalten. Meine Freundin ist gar nicht behindert, lautete die Begründung. Wir werden es anfechten.«
»Das hab ich alles schon hinter mir«, sagte Anton fröhlich wie immer, »und ich würde Ihnen Folgendes empfehlen: Zahlen Sie denen, was sie verlangen. Sie verlieren ansonsten nur Zeit, machen sich fertig, und erreichen trotzdem nichts. Sie werden sowieso zahlen müssen. Man kann nicht gegen die kämpfen. Die werden nicht nachgeben. Denn wenn sie’s tun, müssten sie bei allen anderen Behinderten ebenfalls Zugeständnisse machen. Und das würde dem wichtigsten Grundsatz der ukrainischen Bürokratie widersprechen.«
»Das ist nicht wahr. Das glaube ich Ihnen einfach nicht.«
»Na, dann viel Glück.«
Antons Frau zündete für ihn eine Zigarette an und er nahm sie mit seinen drei funktionierenden Fingern.
Wir können uns gar nicht vorstellen, sagte Lena später, wie viel man mit drei Fingern machen kann.
10 Ein wenig Theorie
An der Universität von San Francisco gab es vor zwei Jahren eine Fachtagung von jungen Psychologen, die, offen gesagt, nicht einmal die jungen Psychologen selbst interessierte, die aber dennoch nicht unerwähnt bleiben sollte.
Der Student W. Tschubenko (Alter und Geschlecht unbekannt) hatte sich Lenas Geschichte als Forschungsthema ausgesucht und kam zu der Feststellung, dass ihr Verhalten durch ein »Helden-« bzw. »Rettersyndrom« bedingt war.
Wie der Student an die umfangreichen und durchaus glaubwürdig klingenden Details aus Lenas Leben kommen konnte, ist unklar. Vielleicht arbeitete ein Verwandter bei den Strafverfolgungsbehörden und hatte ihm die Informationen verschafft. Es ist auch nicht bekannt, ob das erwähnte Syndrom in der Psychologie überhaupt ein gängiger Begriff ist, und falls ja, ob er die von W. Tschubenko angenommene Bedeutung hat.
Die Untersuchung wurde zusammen mit anderen Studien, die im Rahmen der Fachtagung präsentiert wurden, im Universitätsanzeiger »Der Weg des jungen Wissenschaftlers« (S. 55–57) veröffentlicht. Diese Broschüre liegt in der Universitätsbibliothek auf. Bislang hat sich niemand für sie interessiert.
Der junge Wissenschaftler W. Tschubenko behauptet, dass die Gründe für Lenas merkwürdiges Verhalten in ihrer frühen Kindheit zu finden sind; in der nicht ganz korrekten Haltung, die ihre Eltern Lena gegenüber an den Tag legten. Sie verlangten, bewusst oder unbewusst, dass Lena sich ihre Liebe verdienen müsse. Dieser Anspruch führt in der Regel zum völligen Versagen, denn man kann sich Liebe nicht erarbeiten. Zumindest postuliert der Neo-Wissenschaftler das, ohne eine Quelle anzugeben. Lena versuchte, immer und überall die Beste zu sein, und musste sehr bald einsehen, dass sich immer jemand findet, der besser ist. Ein Mensch, der sich ständig mit anderen vergleicht, lebt in der reinsten seelischen Hölle. Die Selbstmordgefahr steigt in der Pubertät um fünfzig Prozent an. Ist die Pubertät einmal überwunden, verzichtet jemand, der sich bis dahin keine Liebe erarbeitet hat, bewusst auf die Liebe als solche, kämpft unbewusst aber weiterhin darum, jedoch auf andere Art und Weise. Er wird sozial hyperaktiv. Er zeigt krankhafte Reaktionen auf die geringsten Anzeichen von Ungerechtigkeit und ist bereit, sich aufzuopfern, um diese Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Ein solcher Mensch definiert die Kriterien für die Anzeichen von Ungerechtigkeit selbst. Er bestimmt auch, wer seine Feinde sind und wie die Regeln des Kampfes lauten. Vermutlich, um dann zum selbst ernannten Helden seines selbst erfundenen Krieges zu werden.
Es gibt jede Menge an Beispielen für das Helden- bzw. Rettersyndrom. Manchmal kämpfen Betroffene gegen einen Supermarkt, weil sie dort einmal Brot gekauft haben, das nicht mehr frisch war. »Wir bauen an der Zivilgesellschaft«, behaupten diese Menschen. Betrachtet man das Problem jedoch in seiner Gesamtheit, merkt man, dass es eventuell doch schade ist, viele Jahre seines Lebens damit zu vergeuden. Der Supermarkt gibt schließlich zu: »Na gut, es ist nun einmal passiert. Wir haben Brot verkauft, das nicht mehr frisch war. Und? Sind Sie jetzt
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