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Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Biografie eines zufälligen Wunders - Roman

Titel: Biografie eines zufälligen Wunders - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Residenz
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Freunde und Familie. Sie müssen damit zurechtkommen, und nicht Sie. Sie haben aber trotzdem ihre kleinen Behindertenrechte, die in großen ukrainischen Gesetzen festgeschrieben sind, und das Einzige, worüber man reden sollte, ist die Umsetzung dieser Rechte. In den Amtsstuben erwarten sich die Behinderten keinen Funken Empathie, sondern nur, dass die Beamten ihre Arbeit machen, der einzige Grund übrigens, warum sie dort sitzen. Von den Ärzten erwarten sich die Behinderten ebenfalls kein Mitleid oder Mitgefühl, sondern nur, dass die Ärzte ihre Arbeit machen, der einzige Grund übrigens, warum sie in den Krankenhäusern sitzen. Von den Leuten auf der Straße erwarten sich die Behinderten weder Mitleid noch Mitgefühl, sondern nur, dass sie nicht mit dem Finger auf sie zeigen wie auf Aussätzige. Ist das denn zu viel verlangt?«
    »Das wissen wir nicht«, antwortete man Lena in der Zeitungsredaktion. »Wenden Sie sich an die NGO s.«
    Und genau das machte Lena. Sie fand die einzige NGO in ganz San Francisco. Die Organisation firmierte unter dem etwas zynischen Namen »Das Leben liegt vor dir« und hatte bloß ein paar Dutzend Mitglieder.
    Anton, der Leiter der Organisation, war schon zehn Jahre lang bettlägerig. Im Gegensatz zu Hund konnte er weder sitzen noch seinen Kopf drehen, nur geradeaus schauen. Seine Hände funktionierten kaum. Nur drei Finger an der linken Hand waren beweglich – sie reichten aus, um eine Teetasse zu halten.
    Zu seiner Behinderung war Anton durch eine der beiden Hauptursachen für Invalidität gekommen – durch Trunkenheit am Steuer. Er war auf dem Heimweg von der Disco. Sein Freund, der am Steuer saß, war eingeschlafen. Anton versuchte, in der Kurve zu lenken. Sein Freund hatte nur ein paar Kratzer abbekommen. Anton war durch die Windschutzscheibe gekracht, ein paar Meter weit geschleudert worden, knallte gegen einen Baum und brach sich einen Halswirbel. An die ersten zwei Jahre seiner Zeit als Behinderter erinnert er sich nicht. Er dachte, er sei gestorben. Sein Herz blieb zweimal stehen.
    Als Lena diesen Anton besuchte, um sich von ihm beraten zu lassen, lag er in einem Bett, das im Hof eines einstöckigen Hauses stand. Eine hübsche Krankenschwester, so um die vierzig Jahre alt, fütterte ihn mit dem Löffel.
    »Er kann auch selbst essen«, erklärte sie Lena aus einem undurchsichtigen Grund. »Anton hat zwei Betten. Das eine steht hier. Da liegt er im Sommer, wenn es draußen warm ist. Das andere steht im Haus. Dort überwintert er.«
    »Gibt es keine Hoffnung auf Heilung?«, fragte Lena. »Oh, Entschuldigung, falls …«
    »Hoffnung gibt es immer«, antwortete Anton freundlich, »sie ist das Einzige, was mich von einem Baumstamm unterscheidet.«
    »Er ist so lebensfroh!«, mischte sich die Krankenschwester ein. »Er ist immer zu Scherzen aufgelegt. Es wird nie langweilig mit ihm.«
    »Und wovon leben Sie? Bekommen Sie eine Rente?«
    »Ja«, sagte Anton, »sie reicht gerade aus für Windeln.«
    Die Krankenschwester nickte, ja, das könne sie bezeugen. Anton fuhr fort:
    »Ich habe Glück, meine Eltern haben ein Business. Sie investieren ihr ganzes Geld in Liegenschaften. Also in mich.«
    »Da sehen Sie’s, immer zu einem Scherz aufgelegt!«, freute sich die Schwester. »Für Invalide wie Anton gibt es nur eine Arbeitsmöglichkeit: am Computer. Ich verstehe nichts davon, aber er ist in dem Punkt ein Profi.«
    Auf dem Bett lag ein geöffneter Laptop. Mit den beweglichen drei Fingern seiner linken Hand konnte Anton den Cursor einer virtuellen Maus bewegen.
    »Im Moment verdiene ich nicht viel. Ich habe erst letztes Jahr damit angefangen. Man braucht Zeit. Im Moment sind es so um die 50 Dollar im Monat.«
    »Und was muss man für diese Summe leisten?«
    »Na ja, das ist geheim. Ich erzähle es Ihnen besser nicht. Das Business ist nicht ganz legal.«
    »Ich sag’s nicht weiter«, versprach Lena.
    Anton lachte fröhlich.
    »Ich gestalte Pornoseiten. Erst bewerbe ich sie und dann verkaufe ich sie. Wenn eine Seite über zehntausend Zugriffe hat, kann man sie verkaufen.«
    »Und wie machen Sie die Seiten bekannt?«
    »Über andere, bekanntere Seiten. Ich schalte Werbebanner, die Leute klicken drauf und kommen auf die Seite, die ich gemacht habe. Wenn man eine bestimmte Anzahl von Klicks erreicht hat, ist sie reif zum Verkauf.«
    »Klingt anstrengend«, seufzte Lena.
    »Es ist schwierig, sich jedes Mal neue Banner einfallen zu lassen, damit die Kunden aufmerksam werden und draufklicken.

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