Bios
sich das Labyrinth des Waldes bis ins Gebirge erstreckte, bis ans Meer. »Das ist kein Zufall mehr. Vielleicht hat Dieter Recht mit seiner Paranoia. Der Planet pellt uns aus unseren Gehäusen, knackt uns regelrecht auf. Es fehlt nicht mehr viel und man bläst die ganze Sache ab und steigt um auf Roboter…«
»Es war ein Unglück«, brachte Zoe heraus. Idiotisch, dachte sie.
»Das ist dem Kartell egal. Und den Familien auch.«
Aber mir nicht, dachte Zoe. Und ihm auch nicht, auch wenn er das nicht offen zugibt.
Elam Mather durchquerte den Raum – sie steckte in einem zerknitterten Schlafanzug, die Augen voller Sorge, in der Hand einen aktiven Palmtop. »Neuigkeiten von oben«, sagte sie.
Hayes sah sie erwartungsvoll an.
»Ich soll hinfliegen«, erklärte Elam. »Zur Laborinsel. Ich soll herausfinden, was passiert ist.«
*
Als deutlich wurde, dass sich die Lage stabilisiert hatte, begann sich der Gemeinschaftsraum zu leeren. Zoe, hellwach und voller Koffein, setzte sich an einen Konferenztisch, der im fahlen Schein der aktiven Wandschirme schwamm.
Jon Jiang, der Nachtschicht-Ingenieur, verabschiedete sich mit einem traurigen Nicken. Jetzt war sie allein. Als sie den großen Schirm an der Westwand aus dem alphanumerischen Standby-Modus auf eine Außenkamera umschaltete, kam sie sich fast wie ein Dieb vor.
Kühl war es diese Nacht, sagte die kriechende Statuszeile am oberen Bildschirmrand. Einundzwanzig Grad Celsius, Wind aus Westnordwest mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von fünf Stundenkilometern. Sterne, die wie Granatsplitter glitzerten, ein Zirrusschleier trübte den Himmel.
Ihr war seltsam zumute. Wie, hätte sie nicht sagen können.
So ähnlich war ihr vor Jahren zumute gewesen, als Theo gekommen war, um sie aus den kahlen Korridoren und grässlichen Steinkammern des Teheraner Findelheims zu befreien. Diese widersprüchliche Mischung aus Gefühlen: Angst vor der Zukunft, Angst vor dem großen Fremden in seiner schneidigen schwarzen Uniform, und zugleich eine nervöse Hochstimmung, eine süße Ahnung von Freiheit.
Ihre Erinnerungen an Teheran waren ›geglättet‹ worden – so der medizinische Ausdruck – bis die Konturen verwischt und die Schrecken gelöscht waren. Sie wusste nur, dass die Aufseher ihre Schwestern regelmäßig vergewaltigt und schließlich hatten verhungern lassen, und dass man sie, Zoe, nach Belieben als Sexobjekt benutzt und herumgereicht hatte. Sie verzieh ihnen nicht, aber Wut und Zorn hatten sich gelegt; die meisten ihrer Peiniger waren wahrscheinlich in den Unruhen der Vierziger umgekommen, in der Feuersbrunst, die aus den Industrieslums um sich gegriffen und den Heimkomplex verschlungen hatte. Diese Leute waren tot und sie lebte noch; vor allem aber hatte sie zu ihrer Bestimmung zurückgefunden, derenthalben sie geboren war: zu den Sternen.
Warum schauderte sie dann aber vor jeder Berührung mit der materiellen Welt zurück? Draußen, in ihrem Schutzanzug, beim ersten kühlen Regentropfen, der ihr auf die Schulter gefallen war? Und unter der großen, rauen Hand von Tam Hayes?
Ich mag es nicht, wenn man mich anfasst. Wie oft hatte sie dieses kleine Mantra in ihrem Leben wiederholt? Es sei, so hatten ihr die medizinischen Ontogenetiker erklärt, ein Vermächtnis aus ihrer Zeit in Teheran. Eine Aversion, die so tief saß, dass man sie nicht mehr ausmerzen konnte. Und wenn schon. Wer sollte sie schon anfassen, da wo sie hinwollte? Auf ihrer Einmann-Expedition durch die Wildnis von Isis gab es nur einen einzigen Menschen – sie selbst.
Aber wieso blickte sie dann mit tränenverschleierten Augen in den Nachthimmel? Wieso verirrte sich ihre Hand immer wieder dahin, wo Tam Hayes sie berührt hatte, als wolle sie das Gespenst seiner Wärme dort festhalten?
Wieso sprudelte die Erinnerung seit geraumer Zeit, als habe sich eine dunkle unterirdische Quelle aufgetan?
Sie wusste nur, dass irgendetwas nicht stimmte mit ihr. Und dass niemand davon erfahren durfte. Nur schon der Verdacht, sie könne krank sein, würde reichen, sie zur IOS, vielleicht sogar zur Erde zurückzuschicken.
Und das hieß Abschied nehmen.
Von ihrer Arbeit.
Von Tam Hayes.
Von ihrer Bestimmung.
*
Zwei Tage vergingen. Die Krise im maritimen Außenposten war bewältigt; die Stimmung in Yambuku klarte ein bisschen auf, doch Zoe entging nicht, dass die Notfallspezialisten ihre Palmtops aufgeklappt auf den Pulten liegen hatten – gefasst war man offenbar auf alles. Sie verwendete den
Weitere Kostenlose Bücher