Bis an das Ende der Nacht (German Edition)
will. Ihre Augen weiten sich, und ihr Mund geht ein Stück auf, und dann drückt sie die Hand davor.
Er sagt: Ich will ein paar Leute einladen. Ein Abendessen. Jetzt am Wochenende am besten. Die Jungs, und Mark und Danielle.
Al, sagt sie, bitte nicht.
Und hinterher möchte ich gern mit dir schlafen, wenn ich kann. Uns bleibt vielleicht nicht mehr viel Zeit, es zu versuchen.
Sie schüttelt den Kopf, und der hölzerne Kochlöffel klappert ein bisschen gegen den Topfrand.
Er sagt: Danach tu ich es dann. Und bis dahin machen wir das Testament fertig.
Sie sagt, flüsternd: Ich kann das nicht zulassen.
Ich muss Abschied nehmen können, sagt er. Überleg doch, was es bedeuten würde, wenn ich diese Grässlichkeit einfach mit mir passieren lasse. Was das für dich bedeuten würde. Wie du mich sehen müsstest, was du alles für mich tun müsstest -
Ich tue alles, sagt sie. Das weißt du.
Ja, sagt er. O ja, das weiß ich. Aber, Elise. Ich kann nicht – er leckt sich über die Lippen, die jetzt fast immer trocken sind -, ich weiß, dass ich es nicht verhindern kann, dass du mich tot siehst. Aber ich liebe dich, und ich will nicht, dass du mich sterben siehst. Ich will dir die Dinge sagen können, die gesagt gehören. Ich will nicht so sterben wie dein Vater. Willst du, dass es mir so geht wie ihm?
Sie zuckt zusammen, und es tut Albert weh, das zu sehen, aber es musste gesagt werden. Er weiß doch, dass sie schon die ganze Zeit an ihren Vater denkt, genau wie er auch.
Ja, Elise denkt an ihren Vater. Sie hat schon an ihn denken müssen, als Albert über Magenschmerzen zu klagen begann, und erst recht, als er eines Tages von seinem täglichen Spaziergang um den Park zurückkam, die Hände an den Unterleib gepresst, und ihr erstmals seine Blässe auffiel, die beinahe durchscheinende Haut. Sie hat ihn dazu gedrängt, zum Arzt zu gehen, ganz ruhig zwar, aber ihr war klar, was der Arzt feststellen würde. Sie hat solch eine Farbe nur einmal vorher gesehen.
Ihr Vater ist an Prostatakrebs gestorben. Gegen Ende, als er regelrecht ertrank im Morphium, war er im Geist wieder in Parris Island, und obwohl sie jeden Tag an seinem Bett saß, hat er sie nicht mehr erkannt. Er hat ihr die schlimmsten Namen an den Kopf geworfen, sie angespuckt und angezischt und böse Yes Sir und No Sir geschnarrt, wenn sie gefragt hat, ob er noch Saft will. Albert war bei ihr. Er hat alles gesehen.
Nein – alles nicht. Sie hat Albert aus dem Zimmer gescheucht, wenn es Zeit zum Windelwechseln war, Zeit für den Dekubitus, für die offene Stelle unten an seinem Rücken, die so breit und so tief war wie ihre Faust und die sie täglich reinigen und mit Verbandsmull ausstopfen und abtupfen und verbinden musste, während ihr Vater auf dem Bauch lag, heulend vor Schmerz, sie verwünschend und sie anbettelnd, dass sie schnell machen solle, schnell, schnell – und die ganze Zeit musste sie gegen den Brechreiz ankämpfen, den ihr die glitschigen Verbände verursachten und die schweren, durchgesuppten Mullbinden, die sie aus der Wunde zog, und der Anblick, der sie die Zähne zusammenbeißen und um Kraft beten ließ: dieser Fleck ganz unten in dem offenen Fleisch, wie ein blindes, halbgeschlossenes Auge, der der weiße Stumpf seines Steißbeins war.
Und Al, ihr Albert, noch immer gutaussehend, noch immer da – dort in der Tür, die Hand am Rahmen -, steht vor ihr und sagt ihr, was gesagt gehört. Seine Augen sind sehr blau, und seine weißen Augenbrauen werden immer buschiger, wodurch er noch vergnügter aussieht als in jüngeren Jahren. Sein Hemd ist sauber in den Bund gesteckt, die Knöpfe genau auf einer Linie mit seiner Gürtelschnalle. Warum diese Dinge? Warum fallen ihr ausgerechnet diese Dinge auf? Sie weiß es: weil sie bald Vergangenheit sein werden. Die Dinge, die sie an ihrem Mann liebt, werden verschwinden, eins nach dem anderen. Einfach so. Sein Geist, so wach und witzig und messerscharf, wird stumpf werden, kindisch. Von der Ehefrau wird sie zur Mutter werden und von der Mutter zur Krankenschwester. Sie hat ihren Albert nie schreien hören, aber das kommt noch. Und wenn sie ihr noch so viel von Schmerzeindämmung erzählen, die Ärzte: Das hier ist Krebs, das ist ein Feind, den sie kennt.
Ich habe an Dad gedacht, sagt sie ihm. Natürlich habe ich an ihn gedacht.
Ich habe mir das alles durch den Kopf gehen lassen, sagt Albert. Und von all den Dingen, die mir kostbar sind … Er bricht ab und drückt sich mit den Fingern die Lippen zusammen.
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