Bis an das Ende der Nacht (German Edition)
Augenblick ab, in seinem Kopf, wo er eine kurze Erklärung abgibt, seinen Schöpfer von seinen Plänen in Kenntnis setzt. Das Gebet, das er folgen lässt, ist für Elise.
Liebste, sagt er, es ist Zeit.
Sie holt Atem.
Ich wusste, dass du das jetzt sagen würdest, sagt sie.
Sie küsst ihn auf die Stirn und setzt sich dann auf, schaut ihn an. Er sieht ihr Gesicht verschwommen, ihr Haar als silbrigen Schimmer.
Bitte, sagt sie. Warte noch einen Tag.
Er berührt ihr Gesicht. Nein, sagt er. Lieber jetzt. Ich habe alles, was ich wollte. Besser wird es nicht.
Er will aufstehen, schwingt die Knie über die Bettkante, aber als er sich hinsetzt, lodert der Schmerz in seinem Bauch auf, und er stöhnt.
Leg dich wieder hin, sagt sie. Ich hol dir eine Tablette.
Sie sind hier, sagt er. Auf dem Nachttisch.
Sie greift nach der Flasche, hastig, und geht damit ins Bad. Sie lässt ein Glas mit Leitungswasser vollaufen und schüttelt sich eine Morphiumtablette in die Hand. Sie kehrt ins Schlafzimmer zurück. Albert knipst die Nachttischlampe an.
Hier, sagt sie. Schluck die.
Noch nicht, sagt er. Ich nehme sie alle auf einmal. Bis dahin halte ich es aus. Schatz? Bist du so lieb und holst mir ein Glas Milch?
Sie zieht scharf die Luft ein. Milch ist seit jeher Alberts Lieblingsgetränk; wenn er sein Glas leer auf den Tisch zurückstellt, schauen seine Augen so zufrieden wie die einer schläfrigen Katze. Sie geht den Flur entlang in die Küche und schenkt ihm ein großes Glas voll. Diesen Blick wird sie nie wieder in seinen Augen sehen. Die Augen ihres Vaters waren glasig – leicht nach oben verdreht, so dass sich das Weiße zeigte. In ein paar Minuten wird Albert auch so aussehen.
Sie geht zurück ins Schlafzimmer. Er trinkt einen Schluck, seufzt dann und sagt: Gibst du mir die Tabletten, Liebes?
Die Flasche ist in ihrer Bademanteltasche. Sie nimmt sie heraus, behält sie in der Hand.
Albert, bitte, sagt sie. Ein Tag noch. Gib mir noch einen Tag.
Er schaut sie an, die Lippen zusammengepresst.
Elise, ich kann nicht. Nein.
Bitte.
Wir wissen doch beide, dass es so besser ist.
Ich kann nicht – ich kann dich das nicht tun lassen.
Ist dir die Alternative lieber?
Sie schüttelt den Kopf. Sie weiß, dass es nichts gibt, was sie dagegen vorbringen kann. Natürlich will sie ihn nicht so sehen müssen, entwürdigt, leidend. Aber das? Das? Sie hält das Werkzeug zu seinem Tod in der Hand. Es kann doch niemand von ihr erwarten, dass sie … dass sie es ihm einfach aushändigt, oder?
Sie kniet vor dem Bett nieder. Albert, sagt sie.
Er stellt das Milchglas auf dem Nachttisch ab. Er nimmt ihre Hände, die um die Morphiumflasche gewölbt sind.
Er sagt: Du kannst das Licht aus lassen, bis … bis es passiert ist. Es wird nicht lang dauern. Halt mich einfach fest, und wenn es vorüber ist, ruf Mark an und sag ihm, etwas stimmt nicht. Er wird in einer Viertelstunde hier sein. Ich habe einen Brief geschrieben. Er liegt auf dem Tisch in der Diele. Er ist an dich adressiert. Tu so, als wüsstest du von nichts. Niemand wird je erfahren, dass du mir geholfen hast.
Al, ich kann’s nicht.
Er versucht, die Flasche zwischen ihren Händen hervorzuziehen, schiebt seine breiten Finger zwischen ihre dünnen, kalten. Er tut es im Sprechen, überredend, langsam. Als sie merkt, was er da macht, fährt sie zurück, bevor sie überhaupt einen Gedanken fassen kann. Ihre Hände rucken aus seinen, und sein Ellbogen stößt gegen den Nachttisch. Das Milchglas wackelt, fällt. Sie sehen ihm beide beim Fallen zu. Es schlägt auf die dunklen Holzbohlen und zerbricht. Scherben, Milch und Schaum fließen kalt um Elises Knie.
Verdammt!, sagt Albert scharf.
Ich mach’s schon weg, sagt sie und steht auf.
Elise – die Scherben -
Sie macht einen Schritt vom Bett weg, die Flasche mit den Tabletten immer noch in der Hand, steigt über die Milchpfütze. Sie tritt in ein Paar flache Schuhe, die im Kleiderschrank stehen. Im Bad nimmt sie ein Handtuch vom Handtuchhalter und holt den Papierkorb. Damit geht sie ins Schlafzimmer zurück und kniet sich vorsichtig wieder hin, um die Bescherung aufzuwischen.
Entschuldige, sagt sie durch den Kloß in ihrem Hals.
Genau so was wollte ich vermeiden, sagt er. In seiner Stimme kratzt etwas. Genau so was meine ich. Siehst du, was es schon mit uns macht?
Und während sie am Boden kniet und Milch und Glassplitter aufputzt, mit schmerzenden Knien und schmerzender Kehle, denkt sie: Es? Es? Wo er doch nichts weiter von ihr
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