Bis ans Ende der Welt
dann doch etwas übertrieben. Ohne so einen schweren Unfall müßte man eigentlich im Leben gut auskommen. Nur, daß es nachträglich sowieso keine Rolle spielte. Der Einblick in Gottes Ratschluß, nach dem er Glück und Unglück, Freud und Leid zuteilt, bleibt dem Menschen versagt. So hatte ich für den Genuß der Gegenwart, das nicht zu ändernde vergangene Leid einfach hinzunehmen.
Condom, km 1799
Von Lectoure könnte man auch gleich nach Süden über die Pyrenäen wandern. Über den Somportpaß nach Puente la Reina in Spanien. Oder man könnte auf dem Wanderweg de Pays Cœur de Gascogne dreiundfünfzig Kilometer nach Auch marschieren und von dort aus auf der Via Tolosona zum Paß. Es war ein aufregend verlockender Gedanke, schon hier die Pyrenäen zu stürmen, anstatt in der flachen Landschaft davor auf nur knapp zweihundert Metern Meereshöhe zu krebsen. Aber es hätte bedeutet, vorzeitig Frankreich zu verlassen. Das wollte ich nicht, auf dem Camino ist mir Frankreich lieb und teuer geworden. Auch wenn in der Gascogne die Entfernung zum französischen Kernland schon deutlich hörbar war. Die Herbergsmutti in Condom jedenfalls hatte schon einen ziemlichen Gesang drauf. Accent klaxon, stichelte mein Französischlehrbuch. Noch schlimmer wurde es dann später im Baskenland, wo man am liebsten nur Baskisch sprach und für so manchen Beutefranzosen Französisch erst die Zweitsprache war. Da fielen meine Sprachlücken erst gar nicht auf. Jean Luc, ein waschechter Pariser meinte dann, den Franzosen geschehe damit nur recht, sie hätten nicht unbedingt alle diese Länder erobern und sich einverleiben müssen. Immerhin hätte die Sache aber den Vorteil, die Baskenmütze als ein Wahrzeichen Frankreichs entdeckt zu haben. Da stimmte ich ihm zu, was wären die Franzosen ohne die Baskenmütze? Und natürlich auch die Baguette! Und natürlich auch den Wein! Das machte gleich den halben Charme der Franzosen aus. Die Französinnen allerdings hatten nichts davon nötig — zumindest die jungen nicht.
An diesem Tag jedenfalls standen nüchterne dreißig Kilometer der regulären Route an. Für mich waren sie mehr als ausreichend. Es hätten aber noch fünf mehr sein können, wäre ich den Umweg zu der Stiftskirche Saint-Pierre aus dem 14. Jahrhundert gegangen. Ein oder zwei Mal bin ich auf solche Ablenkungen reingefallen, inzwischen nicht mehr. Manchen der Stadtväter mag der Pilger wie ein normaler Tourist vorkommen, den man herumschicken kann, um alles sehenswerte zu erspähen. Aber der Pilger als Fußgänger ist dafür nicht immer dankbar. Ich jedenfalls wollte nur den Camino gehen. Es sei denn, man konnte unterwegs pausieren und Brombeeren ernten. Sie wuchsen nun in Unmengen an den Steinmauern entlang des Weges. Wie Unkraut. Die Natur gab ihr Bestes. Später habe ich gesehen, daß die wuchernden Hecken von den Bauern mit mobilen Schreddern abgeholzt werden. Das kam mir irgendwie sündig vor, weil in Mitteleuropa Brombeeren zwar vorhanden, doch nicht so üppig wachsen, insofern einen anderen Stellenwert haben. Sonst aber wären die Wege hier bald unpassierbar. Auch so wurde man immer wieder von so einer übermütigen Brombeerranke aus lockeren drei, vier Metern Höhe „geangelt“ und mußte sich vorsichtig aus der stachligen Umarmung freimachen. An manchen Stellen blieb nichts anderes übrig, als wie durch den Dschungel sich den Weg frei zu schlagen. Mit dem Pilgerstab statt Machete. Immerhin, die ersten Früchte wurden gerade reif, und ich verlor etliche Zeit mit dem Pflücken. Brombeeren geben Flüssigkeit, Vitamine und Mineralien. All das konnte mein Körper gut verwerten. An manchen Stellen kam ich vor Versuchung kaum noch voran, obwohl längst noch nicht Erntezeit war, und viele der Früchte etwas sauer schmeckten. Die verwöhnten Franzosen rümpften die Nase über die unreifen Dinge. Beim Essen und Trinken gab es hier keine Kompromisse, das habe ich längst gemerkt.
Die Hitze schlug heute ein wie ein Schrapnell — mit achtunddreißig und mehr Celsiusgraden. Gut, daß ich schon um halb acht Uhr losging. Die ersten zehn Kilometer bei mäßiger Temperatur waren entscheidend, ob man das Etappenziel erreichte und in welchem Zustand. Aber diese zehn Kilometer waren nur ein kleiner Vorschuß. Schon am frühen Vormittag glühte alles, die Grillen sangen ein lautes Loblied auf den Hochsommer, nur mir stockte der Atem. Da kamen die Brombeeren gerade recht. Der Weg war schwierig, es lagen häufig große Steine herum, ohne feste
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