Bis ans Ende der Welt
am Abend oder auch noch in der Früh anzurufen. Und wenn vergeblich, keiner regte sich auf. Es herrschte eine Unbekümmertheit und Fröhlichkeit wie bei den Zigeunern. Das Muli von Angélique, einer Bauerntochter aus der Bretagne, paßte nur zu gut dazu. Es hieß Charlot und war ungemein beliebt bei allen, wußte um seine Popularität sehr wohl Bescheid und verteilte die Gunst streng nach dem, was man bereit war, ihm ins Maul zu stecken. Es war ein verwöhntes Biest, welches stets lange Pausen zum Ausruhen brauchte, obwohl es keineswegs Gepäck von anderen, sondern nur sein eigenes Zeug trug. Nach und nach trödelten in den Pausen andere Pilger an, und angezogen von dem ländlichen Charme Charlots blieben sie hängen. So kam stets ein lustiger Haufen zusammen. Meist junge Leute wie Philippe, der mich noch bis nach Burgos begleiten sollte. Eine zeitlang hing er da ständig herum, vermutlich mehr wegen Angélique als dem Muli. Doch auch seriöse ältere Herrschaften aus besseren Kreisen wie Alain, Ségolène, Jean-Luc und Ehefrau fanden Gefallen daran und gehörten in den Kreis der Stammgäste. Eine zusätzliche Attraktion dieses Wegabschnitts stellte eine katholische Frauengruppe dar, die von einem Ehemann/Bruder/Sklaven logistisch versorgt wurde. Mit dem Wagen transportierte er das Gepäck, baute Pausentische mit Kaffee und Gebäck auf, sorgte für Übernachtung und Mittagsessen und brachte die Damen auf den richtigen Weg, wenn sie von lauter Plaudern davon abkamen. Man traf ihn ständig, wenn nicht über dem Kaffeestand, so atemlos entgegeneilend mit dem Mobiltelefon am Ohr und dem agitierten Ausruf: „Avez-vous vu les filles? Ils se sont trompées!“ Die „verirrten Mädchen“ allerdings waren wohlproportionierte, zähe Matronen womöglich in den Vierzigern, deren scharfen Blicken und Zungen ich instinktiv lieber aus dem Weg ging. Jedenfalls hatte der Mann viel zu tun, was für Abwechslung und Belustigung sorgte und den übrigen Galliern beiderlei Geschlechts reichlich Gelegenheit gab zu lästern. Zu Frauen hatte man charmant zu sein, war aber nicht ihr Diener.
Als einer der letzten Pilger kam ich an diesem Tag in der Herberge von Saint Antoine unter. Die Frauengruppe reservierte das Meiste davon. Es war nur ein alter, nun zum Gîte umgebauter Bauernhof inmitten von Feldern und Wiesen, aber nicht ohne Reize. Er lag direkt vor den Toren der historischen Kleinstadt, die mit richtigen Mauern und zwei zinnenbestückten Wehrtürmen am Ein- und Ausgang prunkte. Alles echt historisch und sehenswert. Früher einmal stand hier ein Hospiz des Ordens der Antoniter, dem der Ort seinen Namen und eine stattliche Kathedrale verdankt. Es schien mir, daß man hier fast ausschließlich vom Tourismus lebte. Es gab einige Souvenirläden und eine urige Kneipe, die zugleich als Versorgungsladen für die Bewohner diente. Wir taten uns zusammen, um gemeinschaftlich zu kochen, und starteten eine Einkaufsexpedition. Zu kaufen gab es hier nicht viel, es reichte gerade noch für Spaghetti, Käse und Wein. Wichtig war aber den Franzosen, daß es ausreichend Gänge gab. Nur einfach eine Mahlzeit zu kochen und basta, war nicht genug. Käse, Wein und Süßes zur Nachspeise wurden lebhaft und ernsthaft diskutiert. Sogar meine Meinung wurde gefragt. So eine Verschwendung. Ségolène wurde die Ehre zuteil, aus den vorhandenen Vorräten den richtigen Wein auszusuchen. Der hatte nicht nur im Geschmack optimal zu sein, sondern auch im richtigen Preisleistungsverhältnis. Das Kochen übernahm dann mit Hingabe Thibauld, der Doktorand von der Sorbonne. Das hätte ich ihm, ehrlich gesagt, zuvor nicht zugetraut. Anfangs machte er auf mich einen etwas eigenbrötlerischen Eindruck. Als ich ihn vor etwa zwei Wochen in den knorrigen Wäldern des Quercy zum ersten Mal sah, stolperte er ungeschickt über Kiesel und Rinnen und murmelte Seltsames vor sich hin. Vielleicht war es moderne Poesie. Er schleppte nämlich so ein abstraktes Buch mit sich herum, während ich nur einen völlig idiotischen Spionageroman las. Aber unsere Ansprüche auf das Französisch waren wohl ganz unterschiedlich, und ich nahm alles einfach gelassen hin. Doch an diesem Abend setzten mich die Franzosen damit in Erstaunen, daß sie über Spaghetti ein rohes Ei kippten. Ob es Italiener ohne Murren hingenommen hätten? Offenbar wußte man in Frankreich nichts von einer Ansteckungsgefahr von Hepatitis, TBC oder gar Vogelgrippe. Ich zog selbstgerecht echten Parmesan vor, den es hier zum
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