Bis ans Ende der Welt (German Edition)
te zu klauen. Das Bäumchen stand im Freien, doch mochte trotzdem zum Haus gehören. Fragen konnte ich ja nicht, und die überreifen, saftigen Früchte waren bei dieser Hitze einfach unwiderstehlich. Würde die Heuschrecke den Bauer fragen, bevor sie über das Feld fällt? Deborah erzählte mir dann später, die He r bergsbesitzer seien Deutsche. An sich des Deutschen unkundig, hatte sie sich dann eine Schimpfkanonade anzuhören, in der angeblich das Wort „Scheiße“ häufig vorkam. Aber hinauszukommen, um es mir persönlich zu sagen, sind die Leute nicht. Letztlich war ich es, der es verdient hätte, ausgeschimpft zu werden. Hätte ich bloß die Schweizer Umgangsformen! So kam ich durch meine Leich t fertigkeit immer wieder ins Bedrängnis. Aber hinter verschlossener Tür bitterb ö se auf andere zu schimpfen, war auch nichts. Aus Verlegenheit zitierte ich den Apostel Lukas: Wenn euch aber die Leute in einer Stadt nicht aufnehmen wo l len, dann geht weg, und schüttelt den Staub von euren Füßen, zum Zeugnis g e gen sie. [44] Das aber ließ der Herr nicht einfach auf sich beruhen und führte uns an einen reizvollen Ort, der aus einem halben Dutzend Häuser mit großen, parkäh n lichen Gärten bestand. Ein Platz von Klasse und Besitz. Davor stand ein au f wendiges, emailliertes Schild, auf dem geschrieben stand: „Pilger, seid wil l kommen, nehmt Rücksicht auf die Menschen, die hier leben, geht weiter und bleibt nicht stehen.“ An dieser freundlichen Aufforderung konnten wir nicht ei n fach vorbei gehen, sie verdiente in aller Ruhe besprochen zu werden. Eine pe r fekt abgemähte Wiese zog sich von einem weit entfernten Herrenhaus zu dem kleinen Weiher vor uns, und wir nahmen unter einer Trauerweide dort Platz und breiteten unsere Eß- und Trinkvorräte aus, da es unter anderem die perfekte Ste l le zu einer Siesta war. Wir ergötzten uns am Anblick der Pilger, die nun in Grüppchen vorbeizogen, als sie das Schild lasen und seine Botschaft wahrna h men. Manchen schlug es den Atem aus, sie gaben allerhand kritisches Zeug von sich, andere, wie die gepäcklose Frauengruppe schienen sich daran nicht unb e dingt zu stören. Doch keiner wollte uns Gesellschaft unter der Trauerweide le i sten, keiner wollte so rücksichtslos zu den Ureinwohnern sein, um hier zu r a sten. „Allez, allez, mes amis pèlerins, ne s'arrêtez pas, bonnes gens vivent ici, les respectez !“ riefen wir ihnen spöttisch zu. So verging uns die Zeit an di e sem schönen Nachmittag wie im Fluge.
In Euze, das wir so ziemlich aus letzten Kräften erreichten, herrschte ein großer Touristenandrang. Es waren Ferien und ganz Frankreich auf die eine oder andere Art unterwegs. Heute war es die Hauptstadt der Provinz Armagnac, davor aber schon im 4. Jahrhundert das Zentrum der römischen Provinz Novempopulana. Wie in der Gascogne üblich stand hier vor der sichtbaren Geschichte des Mitte l alters die unsichtbare Geschichte der Spätantike. Also war die ganze Altstadt voller Touristen und auch das städtische Touristenbüro, wo man sich anzume l den hatte. Die Herberge lag gleich gegenüber, was den großen Vorteil hatte, w e gen Einkäufe und Besichtigungen nicht allzuweit herumlaufen zu müssen. Was bei etwa dreißigtausend Einwohnern nicht sehr ins Gewicht fällt. Unpaßende r weise jedoch konnte uns die Dame am Tresen nur den einen, von mir reservie r ten Platz anbieten. Deborah war zu faul oder zu leichtsinnig, um im voraus zu reservieren. Ob es vielleicht noch freie Plätze in dem anderen noch disponiblen, jedoch in meinem Führer nicht gelistetem Gîte gäbe, wollte die Angestellte nicht eruieren. Es gäbe nur diesen einen Platz, jetzt oder nie. Das andere Haus sei pr i vat, das gehe sie nichts an. Deborah, die heute erst in Montréal startete und ins o fern, deutlich weniger Kilometer zu laufen hatte, bot sich an, es dort zu riski e ren, ich aber war so fertig, daß ich vor Ort blieb. Ich ließ Deborah nur ungern ins Ungewisse ziehen, auch wenn sie sich selbst dazu anbot. Ein wahrer Gentleman hätte unbedingt erst die Dame untergebracht und erst dann an sich gedacht. Aber in dieser Lage schien es mir ein Luxus. Es gäbe noch eine Herberge in einem Bauernhof nach etwa fünf Kilometern, aber auch sie konnte jetzt, kurz vor dem Abend, bereits voll sein. Es herrschte halt der normale Ferienwahn, und günstige Übernachtungsmöglichkeiten waren schnell ausgebucht. Ich nahm also das A n gebot an, verabschiedete mich von Deborah und schloß vor Ort
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