Bis ans Ende der Welt (German Edition)
täte er ohne sie? All seine Werke, all sein Streben messen sich daran, und sind doch nur ein unvollkommenes Abbild, ein kindischer Versuch, ein Behelf. Wie arm ist, wer sie nicht wahrnehmen kann, wie anmaßend, wer sie übertreffen möchte.
Inspiriert war ich. Dabei langten die Brombeeren nach dem Hut, die nassen Gr ä ser wickelten sich fröhlich frisch um die Waden. Die Franzosen, habe ich mir sagen lasen, nennen diese Tageszeit Rosée – den Tau. Davon lag an diesen A u gustmorgen schon jede Menge herum. Alles war patschnaß und bald auch meine Füße in den nicht mehr wasserdichten Wanderschuhen. Was aber waren mir die Strapazen, wenn die Welt so prall hübsch war? Die poetische Stimmung hielt noch etwa bis zehn Uhr, dann schlug die Hitze ein. Die Täler vor der riesigen Zackenmauer der Pyrenäen erstarrten im gleißenden Licht. Das Grün der Wi e sen war wie gebleicht, die Gipfel am Himmel schwanden im diffusen Weiß. Blitzblanke Dörfer aus grauem, altem Stein wirkten menschenleer, da sich jeder vor der Sonne verbarg. Die Enten steckten den Kopf unter die Flügel, die Hunde die Nase unter die Pfoten. Sie dösten ihr Leben dahin. Nichts rührte sich. Nur ab und zu flitzte eine zu rege Hausfrau durch die dunkle Türöffnung, um im Garten ein Stück Gemüse oder ein paar Kräuter zu holen. Manchmal war ein fliegender Händler eilig vorgefahren, ein Armvoll Brote ins Haus geliefert und wieder ve r schwunden, bevor man überhaupt dumm schauen konnte. An diesem Tag durc h querte ich fünf Täler, durch die das klare Gebirgswasser dahin eilte. Steile, ste i nige Wege führten rauf und runter und wieder rauf. Aus dem Führer erfuhr ich, daß sich die Gegend hier Béarn nennt, was vom römischen Beneharnum abgele i tet wird. Eine antike römische Provinz also, die im fünften Jahrhundert wie alles andere um die Pyrenäen herum an die marodierenden Westgoten fiel. Davor gab es wohl noch die Kelten, davor die monolithische Kultur und so fort. Völker kommen und gehen – wie Schatten huschen sie vor dem Auge des Herrn. Sein Atem ist wie ein reißender Bach, der bis an den Hals reicht. Er spannt die Vö l ker ins Joch und legt den Nationen den Zaum an, um sie in die Irre und ins U n heil zu führen. [48] Seit dem Vertrag von Verdun im Jahre 843, der das Karolinge r reich in drei Teile spaltete und unter anderem auch Deutsche und Franzosen voneinander trennte, gehörte das Gaskognisch sprechende Béarn unter Navarras Herrschaft, doch immerhin zum französischen Einflußgebiet. Während der R e volution wurde es 1790 endgültig Frankreich einverleibt. Ein Drittel gehört he u te den rebellischen Basken, die politische Eigenständigkeit begehren. Das e i gentliche Frankreich ging hier zu Ende. Leider auch die französische Küche. Hier herrscht wieder kohlehydratreiche Nahrung vor. Von dem Wein und Mais, die angeblich in diesem warmen Klima gedeihen, bekam ich wenig zu sehen, statt dessen nur leere Wiesen und struppige Wäldchen, manchmal jedoch auch üppige Sonnenblumenfelder, deren gelbe Köpfe alle gierig nach der Sonne äu g ten. „Alle sehen nach dir, Herr!“ Ich stellte mich ins Feld und sah eine Weile mit den Pflanzen zur Sonne, bis ich gelb wurde. „Deine Schöpfung, Herr, was für ein seltsamer Haufen.“ Der Herr schwieg wie üblich, aber er lächelte.
Die paar Herbergen entlang der heutigen Strecke waren alle ausnahmslos ausg e bucht. Sie waren auch viel zu klein. Die eine in Arthez-de-Béarn reichte gerade noch für die pilgernde Frauengruppe. Der Ort hätte mir gefallen. Hoch über dem Tal am Hang geklebt, die blaue Gebirgswand als Panorama. Ziemlich erschöpft saß ich eine halbe Stunde hinter der Kirche auf einer Bank und sah einfach so zu. Daneben stand die obligatorische Kriegssäule. Vater, Sohn, Bruder, Neffe, ganze Geschlechter gefallen. Niemand mehr da, alle tot. Ich las die klangvollen französischen Namen und weinte um die Ruchlosigkeit der Mächtigen, die ganz nonchalant den Menschensohn von diesem erhabenen Berg in ein Schlammloch an der Somme stürzen und vergasen lassen. Der Erste Weltkrieg saß mir nun wahrhaft in den Knochen. Er führte das ganze zwanzigste Jahrhundert in die Barbarei, bald schon zu einem Zweiten Weltkrieg und bis heute zu vielen Fo l gekriegen rund um die Welt. Der Frieden damals schien unerträglich lang und träge, die Macht und das Reichtum wollten neu verteilt werden. Was für eine Hybris, was für eine Anmaßung, was für eine Schande! Ohne diesen Ersten Weltkrieg
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