Bis ans Ende der Welt (German Edition)
recht tapfer g e schlagen hat, begann nun nachzulassen. Sie wurde immer langsamer, klagte über Knieschmerzen, und als wir irgendwann nach Mittag die fröhliche Gruppe um Angélique und Charlot erreichten, die gerade gemütlich unter einem Baum rast e ten, blieb Michèle bei ihnen zurück. Ich nahm es ihr nicht übel. Es ist auch so nicht gerade angenehm, sich in Staub und Hitze tagein, tagaus durch die Ca m pagne zu schleppen. Wenn aber Schmerzen und falsches Tempo auszuhalten sind, macht es noch weniger Spaß. Und bei Angélique und dem faulen, verfre s senen Charlot war ein so hübsches junges Ding mit Knieschmerzen gut aufg e hoben. Wohl besser als bei mir.
Dazu kam der Umstand, daß gerade dieses Stück des Camino irgendwie zu übe r laufen war. Ständig traf man andere Pilger, es gab viele ungewöhnte Aktivitäten, alle Unterkünfte waren belegt, so daß diese Tagesetappe am Ende auf satte sechsunddreißig Kilometer wuchs. Arme Michèle! Bis Arzacq, wo ich trotz f e sten Marsches erst spät am Nachmittag ankam, wäre sie an diesem Tag nie und nimmer gekommen. Der Ort besteht im wesentlichen aus zwei riesigen Plätzen und zwei großen Kirchen. Die einstöckigen Häuser rund um wirkten irgendwie winzig und bescheiden wie auf einem Dorfplatz. Die beiden Kirchen waren ve r sperrt. Ein Novum. Bis dahin traf ich in Frankreich alle Kirchen, gleich wie ve r lassen sie standen, oder wie wertvoll sie ausgestattet waren, stets geöffnet an. So wie die romanische L’Église des Sensacq aus dem 11. Jahrhundert nur acht K i lometer vor Arzacq. Hier aber hatte man vor einem Glasfenster mit Sicht auf das Kircheninnere zu beten.
Man spürte hier ein anderes Frankreich, als ich es bisher kennenlernte. Zwar war es noch Frankreich, aber ein baskisches Frankreich. Sogar die Produkte im L a den waren anders. Ich hoffte, hier einen Ersatz für das Rasiergel, das ich am Vortag in Nogaro stehen ließ, kaufen zu können. Aber die kleine, praktische D o se gab’s nirgends, nur die üblichen großen, schweren Rasierschaumpackungen. Auch ein neues Handtuch hätte ich gebraucht, auch da Fehlanzeige. Am Ende überließ ich das Problem dem Herrn und ging zurück in die Herberge zum Abendessen. Nach dem mühsamen Tagesmarsch ein elendig langer Weg über den riesigen Platz! Ich hatte noch ein Mückenspray an Florence aus Belgien auszuhändigen. Am Morgen vergaß sie es mitzunehmen. Ich fand es witzig, daß ich zwar eigene Sachen liegen lasse, dafür aber fremde mitschleppe, und erzäh l te es zur Belustigung aller am Abendtisch. Natürlich mit dem Zusatz, daß mich der Herr bestimmt nicht bärtig herumlaufen lassen wird. Da griff eine Dame aus der Frauengruppe konsterniert in die Tasche und zauberte mein vergessenes R a siergel hervor. Sie habe es in Nogaro im Bad eingesteckt, weil sie es für ein Deo hielt, wunderte sich dann über die seltsame Substanz, nun aber könne sie es en d lich dem rechtmäßigen Besitzer zurückgeben. Zumal sie sich nicht rasiere, fügte sie noch hinzu. Mein Glück. Alle lachten über diese Geschichte. Wer aber meine Erzählung von dem dienstbaren Herrn kannte, lachte etwas unsicher. Auch ich, denn ich war mir gar nicht so sicher, ob mich der Herr hier nicht wieder vo r führt. Vielleicht wollte er mir nur die Nichtigkeit meiner Sorgen zeigen. Ich dankte ihm trotzdem. Nach dem Abendessen setzte ich mich in den Garten, b e sah die mächtige Mauer der Pyrenäen davor und dachte nach. Das vergessene und nun wiedererlangte Rasiergel bedeutete gegenüber der üblichen Großpa c kung zweihundert Gramm Gewichtersparnis. Zweihundert Gramm, die bei j e dem der Millionen Schritte auf die Gelenke drücken und sie nach und nach ze r malmen. Joanna oder Michèle würden mir bestimmt recht geben, obwohl sich Joanna ja standhaft geweigert hat, die völlig überflüssige Zeltausrüstung nach Hause zu schicken, um die schmerzliche Geldausgabe nicht ganz und gar übe r flüssig erscheinen zu lassen. Aber sollte man es nicht im Vertrauen auf den Herrn einfach aus dem Kopf blasen und sich um gar nichts kümmern? Nehmt keine Vorratstasche mit auf den Weg, kein zweites Hemd, keine Schuhe, keinen Wanderstab. [46] Dazu gehörte wohl auch ein Rasiergel. Letztlich kam ich aber zum Ergebnis, daß kleine menschliche Wünsche wohl legitim waren. Ist nicht alles, was lebt, dem Herrn ausgeliefert? Ist es, bis ins letzte Detail. Sogar die Haare auf dem Kopf sind alle gezählt. [47] Und so wendet sich der Mensch auch in kleinsten Dingen an den
Weitere Kostenlose Bücher