Bis ans Ende der Welt (German Edition)
dann fast schon autofrei aus. Es herrschte gerade eine Art Wahn wegen der Fußballweltmeisterschaft, die u n ter anderem auch in und mit der Schweiz ausgetragen wurde. Man war nervös, weil die Türken immer gewannen. Natürlich rechnete niemand damit, daß au s gerechnet die Türken Weltmeister werden sollten. Das war nicht vorgesehen, schien gegen die Geschäftsregeln zu verstoßen. Den Türken freilich war es nur recht. Sie hatten einen starken Siegerwillen, den sprichwörtlichen Killerinstinkt, außerdem wollten sie unbedingt in die EU und sahen in der Weltmeisterschaft wohl so ein kleines Türchen, um hinein zu kommen. Sie handelten listig. Erst spielten sie ganz miserabel, wie man es von so einem Land nur erwarten konnte. Bis der Gegner in seinem Eifer nachließ. Minuten vor dem Spielende glichen sie dann plötzlich aus, und in der Verlängerung gewannen sie meist durch Elfmete r schießen. An diesem Tage war die Schweiz dran. Zwei knallrote Flaggen gege n einander, die eine mit weißem Halbmond, die andere mit weißem Kreuz. Fast wie einst vor Wien, und kein Abendland konnte die Türken aufhalten. Wohl deswegen war kaum ein Mensch auf der Straße, als ich in Herisau ankam. Die einheimischen Schweizer Türken drückten sich in den Hauseingängen und taten unauffällig, aber die Spannung war da. Zum Beispiel lief ab und zu einer von ihnen auf die Straße hinaus, als sei er in wichtiger Angelegenheit unterwegs, doch kehrte er nach einigen Schritten um und zurück zu seinen Kumpanen. Sehr verdächtig.
Ich bezog eine winzige Dachkammer im vierten Stock eines mittelalterlichen Hauses direkt im Zentrum. Die billigste im Angebot. Sie war nur zu erreichen, wenn man im Treppenhaus den Rucksack abnahm. Sonst blieb man stecken. Hier wollte ich jedenfalls in völliger Unwissenheit über den Spielstand des Morgens harren. Doch so winzig war sie, daß ich nach dem Waschritual doch noch auszugehen beschloß. Klaustrophobie. Außerdem war ich durstig und hungrig. Doch es gelang mir nicht, ein Restaurant ohne den obligatorischen großformatigen Fernsehbildschirm zu finden. Es gab einfach kein Entkommen, alles drehte sich um die kommende Schlacht. Inzwischen wußte ich schon, daß die Türken durch einen Losentscheid nicht im traditionellen Rot, wie es ihr N a tionalstolz verlangte, sondern in einem absurden Babyhellblau spielen mußten. Nichts wollte man ihnen ersparen. Sie sahen absolut lächerlich aus, wie eine schwule Kinderkrippe beim Ausflug im Park. In einer angenehmen Pizzeria trank ich zwei Gespritzte, bezahlte soviel, wie zu Hause für eine vollwertige Malzeit, und ging schlafen. Heute war nicht mein Tag, aber es sollten noch be s sere kommen, dessen war ich mich sicher. Die Türken gewannen in der oben b e schriebenen Weise und demütigten die Schweizer absolut. Es kann sogar sein, daß es eben dieser Türkensieg war, welcher der vierberühmten Schweizer Wehrhaftigkeit den entscheidenden Stoß versetzte. Eventuelle Tumulte in den Straßen verschlief ich jedenfalls. Bis ins vierte Stock stiegen die Wogen, sollte es sie gegeben haben, nicht. Aber das war noch nicht das Ende. Der Kampf E u ropas mit dem Halbmond ging weiter.
Wattwil, km 466
Und ich auch - am nächsten Morgen, wobei ich nicht gleich den Weg fand und niemanden fragen konnte. Alles wie ausgestorben. Doch die Schaufenster waren noch ganz und die Straßen frei von Scherben. Offenbar gab es doch keine Str a ßenkämpfe. Aber es nieselte. Der Führer versprach nur eine einzige Ortschaft, dafür aber zwei Berge von tausend Metern, einen imposanten Höhenweg knapp darunter und eine tiefe Schlucht, gegraben von dem Fluß Necker. Pure Roma n tik, und ich sollte nicht enttäuscht werden. Genau als ich zu Mittag die erste Berghütte erreichte, wurde es schlagartig dunkel und ein heftiges Hagelgewitter schlug die Erde wie die Peitsche. Ich saß mit einem Krug Milch und selbstg e machtem Kuchen am Fenster, sah in das Chaos draußen und war sehr zufrieden mit mir, daß ich es so trefflich einrichten konnte. Das mochte ich schon als Kind. Im Warmen und Trockenen zu sitzen, wenn draußen die Welt untergeht. Wie der alte Noah und die Sintflut, einfach herrlich. Im sechshundertsten L e bensjahr Noachs, am siebzehnten Tag des zweiten Monats. An diesem Tag br a chen alle Quellen der gewaltigen Urflut auf, und die Schleusen des Himmels öffneten sich. [14] Ich komme aus den Bergen, wo es nie an irgendwelchen Wette r kalamitäten fehlte, also habe ich damit Erfahrung. Als ich
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