Bis ans Ende der Welt (German Edition)
Antwort,“ hieß es, und ich durfte ohne Kontrolle passieren. Natürlich war ich geschmeichelt. Heutzutage arbeitet man ganz und gar psychologisch professi o nell. Der ordinäre Kriminelle verfängt sich in seinem Lügennetz. Der aufrechte Bürger wie ich, schlüpft dagegen unbehelligt durch die großzügig angelegten Maschen des Gesetzes. Er hat sich ja nichts zuschulden kommen lassen. So g e schehe jedem recht. Es ist freilich auch hilfreich, nicht irgendwie südausländisch auszusehen, korrektes Deutsch zu sprechen, und, falls man mit dem Wagen u n terwegs ist, vom Typ her zum Fahrzeug zu passen. All das macht den aufrechten Bürger aus. Als ich die beiden aber später im Restaurant belauschte, beklagten sie sich einer hübschen Stewardeß gegenüber recht vehement, daß die Kontro l len wegen des Schweizer Beitritts zum Schengener Abkommen bald aufhören sollen. „Wie sollen wir dann für Ordnung und Sicherheit sorgen?“ Richtig, das neue, vereinigte Europa warf alle Maßstäbe über den Haufen. Heute opferte die Schweiz die Grenzkontrollen, morgen das Bankgeheimnis. Außerdem hatte ich erst kürzlich gelesen, man wolle den Reservisten ihre Dienstwaffe nicht mehr mit nach Hause geben. Aus der Sicht eines vereinigten Europäer waren es längst verlorene und fast schon vergessene Tugenden. Es war offensichtlich, daß die Bundgenossen vor einer Krise standen. Dabei hat der Tag kaum begonnen, und ich den Schweizer Boden noch gar nicht betreten.
Die Ankunft in der Schweiz war sparsam, ordentlich und völlig unspektakulär, wie es sich für die Schweiz gehört. Es nieselte, die Temperatur paßte dazu. Ro r schach lag da wie ausgestorben, ein toter Karpfen am Strand. Die Uhrengeschä f te und Bäckereien spiegelten sich ganz umsonst im nassen Asphalt, an diesem Tage war ich wohl der einzige Besucher in der Stadt. Von mir hatten sie sich auch nichts zu erwarten, denn ich dachte an die vierhundert Meter Anstieg vor mir und zog zügig davon. Bald brannten die Sohlen, schnitten die Riemen in die Schultern. Wie üblich. Meine Theorie, daß sich der Körper früher oder später den Strapazen fügt und klaglos seinen Dienst tut, war offensichtlich ein Hu m bug. Im Gegenteil. Gut ging es mir etwa die ersten zweihundert Kilometer. Ha, und wie ich marschierte, flott und fröhlich. Danach gab es überwiegend Blasen, Schweiß, Mühsal und schlechtes Wetter. Auch jetzt schwitzte ich herrlich unter dem Regenponcho, fror an den Händen und litt an sonstigen artverwandten Qu a len eines chinesischen Kulis. Ich suchte Trost in zwei Kapellen, beide waren sie verschlossen. „Wegen diverser Vorkommnisse,“ hieß es. Über die Art der Vo r kommnisse ließ sich der Aushang nicht aus. Das wurde der Diskretion des L e sers überlassen.
Ich dachte darüber nach, während ich durch Sankt Gallen marschierte. Nac h denken war eine gute Abwechslung. Ich konnte völlig abschalten, dabei Musik hören, lesen oder gar ganz woanders sein, was sich so gerade anbot. Manchmal erzählte ich dem Herrn was, aber nicht immer war er da. Den Stadtleuten bot ich wohl einen seltsamen Anblick. Offenbar waren wir uns irgendwie fremd. Noch mehr als in Bregenz, da ich Sankt Gallen nicht mochte. In der Altstadt fragte mich ein recht fragwürdig aussehender Mitbürger, wo ich denn meine Schäfchen habe, ob ich meine Herde verloren hätte. Es war eine offensichtlich faule und billige Anspielung auf den Regenponcho und den Hirtenstab. Da die Herde im Lexikon als eine Ansammlung von meist größeren Säugetieren (Antilopen, Bü f fel, Pferde), definiert ist, bot ich ihm an, sich mir als erster anz u schließen, ich sei erst am auflesen. Aber er redete sich aus. Vielleicht mußte er irgendwo Rauschgift verkaufen oder Autoradios klauen. Überall rasten weißblaue Polize i autos herum, es gab wohl für sie genug zu tun. Ehrlich gesagt war ich froh, nach Stunden aus Sankt Gallen wieder heraus zu sein. Ich erzählte es dem Herrn an der nächsten verschlossenen Kirche gerade aus. Aber es war kein Ärger, keine Ungeduld dahinter wie noch in München vielleicht, emotional sa g te ich den Fragwürdigkeiten des Großstadtlebens sichtlich immer mehr ab. De n noch traute ich mir noch nicht ganz, Großstadt und Großstädter konnten mich stets gewaltig auf die Palme bringen. Doch der Herr klopfte mir beruhigend auf die Schulter, und für die nächsten eintausend Kilometer oder so sollte ich nicht mehr ernsthaft geprüft werden.
In Herisau, dem Tor des Appenzellerlandes, sah es
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