Bis ans Ende der Welt (German Edition)
Recht und die Pflicht des Pilgers, am Weg alles Eß- und Trinkbare zu plündern, was sich nur finden läßt. Das stimmt insofern, als man meist nur wenig kaufen kann und eigentlich ständig hungrig und durstig ist. Irgendwo in bequemer Autoreichweite gab es bestimmt gleich mehrere S u permärkte mit allem, was man nur in den Kofferraum laden kann. Hier aber stand nicht einmal eine Bank oder Steinmauer zum Ausruhen parat. Folglich war ich so sehr mit Kirschklau beschäftig, daß ich mich verlief und einen ziemlichen Umweg über einen echt steilen Berg machte. Es war gar nicht so einfach, auf den Camino zurück zu finden. Ist man nämlich erst abseits geraten, weiß ni e mand mehr über den Weg Bescheid. Die kleinen Sünden bestraft der Herr sofort. Aber die Kirschen waren echt köstlich, auch fand ich auf diesem Berg eine nette kleine Stadt, eine bequeme Bank beschattet von kleinen Platanen und ein paar nette Menschen, die mir am Ende die Richtung wiesen. In einem kleinen Dorf fand ich eine Stelle, wo man Pilgerstempel bekam, denn in dem häßlichen Hotel am Vorabend gab es keinen. Beim Hinaustreten aus der Kirche traf ich auf zwei junge Männer aus Neuseeland mit einem Esel, die den Camino entgegen der Richtung liefen. Ein Stück weiter drückte sich in einer verfallenen Scheune eine Frau mittleren Alters mit einem Maulesel herum. Es war viel los in dieser G e gend. Die Zahl der Pilger nahm zu, plötzlich tauchten sie auf und verschwanden dann meist wieder auf Nimmerwiedersehen. Nur die zwei Nepal-Amerikaner blieben mir treu, auch an diesem Tage.
Am Nachmittag erreichte ich eine simple, doch auch billige Herberge mit dem originellen Namen Radio d’ici . Man verlangte nur eine Spende für die Übe r nachtung, obwohl der Führer acht Euro veranschlagte. Das Haus war überhaupt nicht leicht zu finden, mehrere Male lief ich daran vorbei, dann fand ich die Tür mit der Jakobsmuschel daran, doch stand alles leer und offen, so daß man sich gar nicht hinein traute. Dem Namen nach muß diese Herberge einmal etwas mit einem Lokalradio zu tun gehabt haben, doch das Geheimnis blieb mir verschlo s sen. Sie machte mehr den Eindruck einer linken Studentenkommune. Es gab e i ne gut ausgestattete Küche und jede Menge freie Lebensmittel, an denen man sich straflos vergreifen konnte. Alles in Fülle. Davon nahmen wir aber nur spä r lich, weil es um die Ecke ein offener Lebensmittelladen mit lokalen Wein- und Käsespezialitäten gab. Diese waren mir schon immer Favoriten.
Auf dem Zimmer fand ich auch einige Taschenbücher, eines davon, die B e schreibung einer historischen Pilgerreise nach Tibet wollte ich mitnehmen, lies es aber zu meinem großen Bedauern am Morgen auf dem Bett liegen. Es sollte nicht sein. Doch seit Wochen las ich nichts außer im Pilgerführer und der Bibel, und langsam fühlte ich den Mangel. Ich beschloß, mir bei der erstbesten Gel e genheit wieder ein Lesebuch zu besorgen, wenn ich ein passendes finden kon n te. Passend hieße spannend, doch erbaulich, jedoch nicht zu schwer im Gewicht. Es gelang mir dann aber erst in Moissac . Es war das Buch Pilote de Guerre von Antoine de Saint Exupéry, zerlesen, zerfledert und mit einem kitschig reißer i schen Bild auf der Titelseite. Es begleitete mich dann bis nach Hause, auf dem Camino hat man doch nicht so viel Zeit zu lesen. Zusammen mit Tagebuch, Bri l le und Schreibzeug schleppte ich es überall durch die Herbergen, und später in Spanien, wo Deutsche, Italiener und Spanier die größte Pilgerschar ausm a chen, hielt man mich deshalb für einen Franzosen. Was mich nur ehrte.
In diesem denkwürdigen Gîte lernte ich zwei Pilger kennen, die mich noch lange auf dem Camino begleiten sollten - eine Deutsch-Schweizerin und einen Arzt aus Norddeutschland. Der Arzt hieß Jörg mit vornahmen und war ein feiner, sympathischer Mensch mittleren Alters. Er litt an etwas, was heute wohl mit Burn-out zu bezeichnen wäre, und was die Enzyklopädie schnöde als „Mind e rung des Wohlbefindens, der sozialen Funktionsfähigkeit sowie der Arbeits- und Leistungsfähigkeit“ beschreibt. Zu Hause schmiß er alles hin und machte sich auf den Weg nach Santiago. Ich wünsche ihm, daß er fand, was er vielleicht nicht sicher benennen wußte, jedoch suchte. Das Mädchen hieß Rebekka und war genau das Gegenteil von ihm. Klein und dick, im wahren Sinne des Wortes vierschrötig wie eine Papiertonne, trug auch noch ein abartig rotes Haar, das man nicht so schnell zweimal sieht. Große
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