Bis ans Ende der Welt (German Edition)
Zierde ihres Geschlechtes war sie nicht gerade, doch sehr fidel, optimistisch und gewiß ein echtes Waliser Orig i nal. Hätte ich in der Schweiz eine Schokoladenfabrik, ich würde diese Frau als Reklame anheuern. Sofort. Sie sprach das Schwyzerdütsch, als ob es eine richt i ge Hochsprache wäre. Hemmungslos aufrecht - sozusagen. Mit der Zeit gewann ich sie und ihren Dialekt immer mehr lieb, und wenn ich meine lästernde Ei n stellung zu den Eidgenossen bedenke, so tat mir der Herr wohl wieder einmal den Gefallen, mich an der Nase zu fassen. Mehrmals blieb sie hinter mir zurück, doch tauchte sie immer wieder auf, bis ich sie nach Hunderten von Kilometern in Moissac endgültig aus den Augen verlor. Wie sie es auf ihren kurzen, dicken Beinchen geschafft hat, mich immer wieder einzuholen, ist mir ein Rätsel. Sie hatte Saft, das steht fest.
Jedenfalls wurden es von nun an immer mehr Pilger. Le Puy en Valey, eine wichtige historische Pilgerstätte, lag schon zum Greifen nah. Für viele diese Stadt der Ausgangsort der Pilgerschaft. Die Tradition geht auf den Bischof G o desalc zurück, der hier im Jahre 950 als einer der ersten den Camino bestieg. Noch mehr Pilger? Ich war so an das Alleinsein gewohnt, daß ich mir so einen Andrang kaum vorstellen konnte, und sah der Entwicklung mit gemischten G e fühlen entgegen.
Les Sétoux, km 1219
Wir brachen am nächsten Tag alle gemeinsam los und hatten gute Zeit trotz schwierigen Geländes. Es ging weiter aufwärts, heute sollten es gleich achthu n dert Höhenmeter werden. Wegen der Schluchten und Täler, in die man wieder absteigen mußte, wurden es dann noch mehr. Meist waren es heute gute Wege, aber es gab auch enge und steile Stellen. Gerade, wenn man sich schon auf das Bequemere eingestellt hat. Aus dem Hügelland wurde langsam ein richtiges Mi t telgebirge. Wie hoch im Schwarzwald, mit tiefen, romantischen Schluchten, über die der Camino auf einer aufgelösten Lokalbahnstrecke auf luftigen Brü c ken schritt. Der Pilat-Nationalpark atmete würdige Anmut ein und aus. Wir tr ö delten jeder für sich im knappen Abstand, trafen und trennten uns immerzu, so daß sich keiner – sprich Jörg - in seiner Kontemplation genötigt sah. Irgendwann ging ich dann zusammen mit der kleinen Walliserin weiter. Zu zweit machte es einfach mehr Spaß, die schöne Landschaft zu bewundern. Geteilte Freude ist ja eine doppelte Freude.
Genau zur Mittagszeit entdeckten wir ein Freizeigelände mit ein paar Tannen davor. Früher muß an dieser Stelle ein kleiner Bahnhof gestanden haben. Nun gab es da, was selten vorkam, einen richtigen Picknickplatz mit Bänken und T i schen aus dicken Balken. Um ganz sicher zu gehen, wies eine ins Holzbrett ei n gebrannte Innschrift auf diese Rarität hin. Nur war das Gelände bereits von einer heiteren Seniorentruppe besetzt. Es ging hoch her. Die Herrschaften trafen sich hier regelmäßig einmal im Jahr, kredenzten einander nun freudig jede Menge Delikatessen und diverse feine Weine auf und ließen sich all die Gaben lauthals schmecken, während wir etwas abseits, auf dem Boden hockend, frugal mit Brot, Käse und Wasser vorlieb nahmen. Schweizer Verhältnisse eben. Einer der Männer kam rüber zu uns, erkundigte sich nach unserem Status und kehrte b e richtend zur Gruppe zurück. Dort diskutierte man lebhaft den Umstand und b e ließ es dabei. Es erinnerte mich an eine alte Filmklammotte, in der sich der K o miker in ähnlichen Umständen vor dem Haus, wo gefeiert wird, das trockene Brot zum heranströmenden Wohlgeruch der Fleischgerichte schmecken läßt. Nur daß es hier mehr nach Tannenzapfen als nach Entebraten roch. Vielleicht hätten wir uns auch etwas näher heran setzen müssen, vielleicht ein nettes G e spräch anfangen und unsere ach so prekäre Vorratslage passend an den Mann bringen. Auf mich alleingestellt hätte ich möglicherweise der Versuchung nicht widerstanden. Doch die vornehme Schweizer Zurückhaltung verbot solch friv o len Gedanken. Wir konnten doch nicht die Senioren in ihrer Feier stören, und sie fanden es nicht passend, uns einzuladen. Etwas amüsiert, doch ohne Groll auf die geizigen Alten, zogen wir bald weiter. Immerhin liehen sie Rebekka den To i lettenschlüssel.
Längst kam ich mir vor wie die alten Seefahrer auf Entdeckungsreisen im Paz i fik – ständig auf der Suche nach Vorräten. Kurz vor der Skorbut. Es war ja l ä cherlich. Sollte ich am Ende eine Obsession davon tragen und künftig zu Hause massiv Eßbares bunkern?
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