Bis ans Ende der Welt (German Edition)
gewöhnt, andere abzuhängen. Vielleicht vermuteten sie bei mir einen widrigen militärischen Hintergrund. Sonderko m mandos oder Ähnliches. Es kam einmal andeutungsweise zur Sprache, blieb aber letztlich ungeklärt. Nun ging ich also wieder allein, und das war gut. Der Pilger braucht Zeit für sich, weil die wahre Pilgerschaft innen geschieht. Indem er geht, meditiert er. Die Strapazen des Weges helfen ihm, zu sich vor Gott zu finden. Dazu braucht er das Alleinsein. Und das wurde mir unterwegs - und e i gentlich auch sonst - nie zu viel. Wenn nötig, konnte ich mich ja in Gedanken an einen beliebigen Punkt meiner Erinnerung versetzen und dort einfach eine Weile verweilen, bis die Langweile oder physische Last nachließ und die Demut ei n kehrte. Allein konnte ich ungestört mit dem Herrn reden. In Gesellschaft ist all das viel schwerer. So angenehm sie sein mag, sie lenkt nur vom eigentlichen Ziel ab. Es war gut mit Bill, allein war es besser.
Motiviert schritt ich auf dem patschnassen Waldpfad aus. Es gab riesige, tiefe Wasserlachen zu umgehen, was nicht immer einfach war. Eigentlich hätte der Weg endlich absteigen und bequemer werden müssen. Das heutige Etappenziel war mit knapp zweihundert Meter Meereshöhe der tiefste Punkt der gesamten Frankreichstrecke. Aber wie oft im Leben versperrten etliche Hindernisse den Fortgang. Der Camino folgt hier nicht dem Tal und Fluß, wie es gewöhnliche Straßen tun. Er geht über Höhen und Tiefen, während einige Kilometer weiter rechts das Flüßchen La Varéze die leichtere Passage zur Rhône nimmt. Doch von dem historischen und darüber hinaus sehr gut markierten Weg abzuweichen, wäre fast schon ein Frevel. Den gelobte ich zu gehen, keinen anderen. Also stürmte ich im englischen Tempo gegen die Hügel an und lobte den Herrn für seine Schöpfung, denn die Aussicht da oben ist großartig. Die dicken Stromle i tungen, die aus dem Tal kommen, scheinen irgendwie zur Landschaft zu passen. Es sind die Kathedralen der Moderne, somit ein Teil der Kulturlandschaft. Sie knurrten heute nicht mehr, trotzdem traute ich ihnen nicht und passierte unter ihnen stets mit Vorsicht und gemischten Gefühlen. Solchen Teufelsdingen war einfach nicht zu trauern. Immer noch war alles naß, und ab und zu regnete es ein wenig. Die Luft war schwül, was weitere Gewitter ahnen ließ. Die Jause mußte ich auf dem nackten Boden des Feldweges einnehmen, da es keine einzige Bank oder eine andere Sitzgelegenheit gab. Aber die gab es sowieso nie. Hier jedoch nicht einmal ein Stein oder ein Stück Holz, nur nasse Erde. Alles schien fruch t bar, jeder Meter wurde auf die eine oder andere Weise landwirtschaftlich g e nutzt. Die Felder waren teilweise schon abgeerntet. Trotzdem gab es absolut niemanden zu sehen. Die französischen Bauern tun ihr Werk sehr diskret, das steht nun mal fest.
Eine solche Idylle konnte freilich nicht ewig halten. Irgendwann stieg ich ins Tal hinunter, aus den matschigen Wegen wurden gut asphaltierte Straßen, auf denen stinkende, lärmende Autos fuhren, und alles unterwarf sich dem planvollen Streben nach Geld und Fortschritt. Vor mir versperrte ein graues Atomkraf t werk, die Quelle der dicken Kabel, den Weg über die Rhône. Ein wahrer M o loch. Fast vierzehnhundert Megawatt Strom erzeugten die zwei Druckwasserr e aktoren normalerweise. Heute aber machte es einen öden, toten Eindruck. Wie ein gestrandeter Wal lag es da. Und der Eindruck täuschte nicht. Das Kraftwerk stand still, kein Dampf stieg aus den Kühltürmen. Wohl deshalb war vorher kein Summen in der Stromleitung zu hören. Das Ding war kaputt, abgeschaltet. So etwas tun die Betreiben nur nach einer ernstzunehmenden Panne. Und eine Pa n ne in einer Atommühle? Ich glaubte die Strahlung förmlich spüren zu können. Das erste Mal, daß ich dieses Gefühl hatte, war während eines Motorradausflugs in die Toskana. Da kam urplötzlich so ein komisch warmer Regen, daß ich i n stinktiv Schutz unter einer Brücke suchte, mich dabei wie schmutzig fühlte und überhaupt nicht wohl, was noch mehr zutraf, als ich einen Tag später zufällig erfuhr, daß im ukrainischen Tschernobyl ein Atomkraftwerk in die Luft flog und in ein paar Stunden halb Europa verstrahlte. Das Ding hier schien wenigstens noch ganz zu sein, verbreitete trotzdem eine unheimliche Stimmung. Das war kein Ort für Pilger. Laut Führer wäre das heutige Tagesziel Clonas-sur-Varèze gewesen. Mit sechsundzwanzig Kilometern eigentlich eine gute Tagesleistung.
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