Bis ans Ende der Welt (German Edition)
Betroffenen hätten ohne Behandlung nach Hause gehen können. Brauchten sie wohl nicht mal eine Taschenla m pe mit auf den Weg zu nehmen.
Alles andere wurde einfach unter den Tisch gekehrt. Auch als fast zu gleicher Zeit im AK Tricastin, laut Betreiber der größten Atomanlage der Welt, mehrere Strahlungsunfälle hintereinander passierten. Dort stehen vier alte Druckwasse r reaktoren und eine Wiederaufarbeitungsanlage für Atombrennstäbe. Erst liefen dreißig Kubikmeter uranhaltiger Flüssigkeit in den Fluß, immerhin 360 Kil o gramm abgereicherten Urans, dann entweichte ein wenig radioaktiver Staub (Kobalt-58) und verstrahlte hundert Mitarbeiter, dazwischen sickerte etwas von den provisorisch unter einer Erdkuppe entsorgten 750 Kilogramm Uran aus den 70er Jahren in die Umgebung. Zeitgleich lief in der Brennstäbefabrik in R o mans-sur-Isére nahe Grenoble wegen einer „seit Jahren brüchigen Leitung“ r a dioaktive Flüssigkeit aus. Die Presse sprach von „zwei schwarzen Wochen an der Rhône“, für die französische Atomaufsichtsbehörde waren das aber nur kle i ne „Anomalien“. Nicht der Rede wert und ganz ohne Einfluß auf die Umwelt. Angeblich ereignen sich gleich Hunderte solche Vorfälle Jahr für Jahr und we r den normalerweise gar nicht veröffentlicht. Oder verheimlicht. Warum legte man in St-Alban beide Atommeiler still? Wegen ein paar fidelen Mitarbeitern, die nach Hause geschickt wurden? Da fragt man sich was.
So miserabel das Zimmer war, es hatte einen Fernseher. So dachte ich, mehr über die Lage zu erfahren, doch es gab nur die übliche Gehirnwäsche: Alle P o litkomiker Europas feierten in Japan eine Königshochzeit, in London explodierte etwas, auf den Straßen gab es Autounfälle, und der Europazirkus tagte wegen Chinesenschwämme. Kein St-Alban. Erst einige Tage später erschien die Me l dung in der Lokalpresse, später dann in den Pariser Zeitungen, als die Pannens e rie ruchbar wurde und alles auf einen Skandal deutete. Der Rest des Abendpr o gramms bestand aus Schwachsinn, schlimmer noch als zu Hause, wo ich den Fernseher schon vor Jahren aus Gründen der geistigen Hygiene auf die Straße stellte. Er stand dort, obwohl fast neu, ganze zwei Tage, bis ihn jemand mi t nahm. Angewidert ging ich nun ins Bett und betete zum Herren: „Herr, heute früh marschierte ich über den Grat, sah die geballten Wolken, das satte Grün der Hänge, und mein Herz war übervoll mit dem Lob der Schöpfung. Da war ich mit dir groß. Jetzt bin ich klein und gemein in diesem Loch. Laß so, ach Herr, wi e der Morgen werden.“
St-Julian-Molin-Molette, km 1194
Und der Herr ließ Morgen werden, blau und golden, und ich bestieg nach dem Frühstück energisch den steilen Pfad rechts hinter der Kirche. Nichts wie weg von hier! Oben auf dem Bergkamm hielt ich an der Chapelle du Calvaire aus dem 17. Jahrhundert kurz an. Den Herrn zog es gleich weiter, weil hier fleißig repariert und betoniert wurde und eine echte Kontemplation kaum möglich war. Ich aber blickte noch zurück auf das tote Atomkraftwerk unter mir und beklagte den Frevel. Die Könige herrschen über ihre Völker, und die Mächtigen lassen sich Wohltäter nennen. [28]
Damit ließ ich die Rhône, die mich eine ganze Weile auf meinem Weg begleit e te, endgültig zurück. Ich dachte an den grünblaugrünen Gang durch den Rhôn e gletscher, den wilden, felsigen Gebirgslauf des Rotten in Wallis, den grünen, glatten, muskulösen Strom unter dem Pont de la Tour l’Ille beim Austritt aus dem Genfer See, die üppigen, von schrillen Vogelstimmen hallenden Rhôneauen in Savoyen, an berühmte Weine wie Châteauneuf-du-Pape , Gigondas , Tavel , L i rac , Hermitage , Côte Rôtie . Ein romantischer Fluß, ein mächtiger Fluß, der zweitgrößte Strom Frankreichs, den und dessen Kanäle ich gerne mit dem Boot befahren würde. Hier unter mir sah ich eine andere Rhône - lahm, gebändigt und als Spülbecken für ein Atomklo mißbraucht. Es war ein etwas trauriger A b schied.
Aber nicht deshalb war ich unterwegs, um Schönes zu erleben. Von nun an sol l te es wieder aufwärts gehen. Rein geographisch gesprochen, um fünfhundert Höhenmeter am heutigen Tag. Und die Natur ließ auch wieder Gutes erwarten. Das Wetter war günstig, der Boden fruchtbar, Apfelplantagen und Weinberge winkten mit noch unreifen Früchten, auch die üppigen Brombeerbüsche, doch ab und zu gab es schon große, dunkelrote Kirschen. Ich habe mir im Scherz eine Parole zurechtgelegt, es sei das
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