Bis ans Ende des Horizonts
Blechsparbüchse, die mir als Kind gehört hat. Als ich ein paar Münzen durch den Schlitz herausschüttelte, fiel mir plötzlich ein, wo ich die Dose früher versteckt hielt: in einem Loch unter dem Dielenboden im Zimmer meines Vaters. Als ich sechs oder sieben Jahre alt war, hatten Martin und Pearl mir dieses Versteck gezeigt. Dort hatten sie als Kinder selbst so manche Dinge vor den neugierigen Blicken Erwachsener verborgen: Lutscher, Streichhölzer, Geldmünzen und eine zahme Maus. Nur sie und ich kannten dieses Versteck, versicherten sie mir. Ich nahm es also dann einige Jahre lang selbst in Beschlag und verstaute dort meine Comics, Schokolade, die ich von meiner Großmutter geschenkt bekam, eine Schleuder und ein Messer, das ich einmal gefunden hatte.
Ich ließ die Sparbüchse fallen und raste zurück ins Haus. Das frühere Schlafzimmer meines Vaters wurde gerade renoviert. Der alte Teppich lehnte zusammengerollt an einer Wand, die von dem einen oder anderen Wasserschaden in Mitleidenschaft gezogenen Dielen lagen nackt und bloß. Mein erster Bick galt einer Stelle in der rechten Ecke, wo sich eine kleine Kerbe im Boden befand. Ich kniete mich davor, steckte zum ersten Mal seit fünfzig Jahren meinen Finger hinein und zog ein Stück des Bodens weg. Es war ein etwa dreißig mal dreißig Zentimeter großes Stück Holz wie eine Mini-Falltür. In dem Hohlraum zwischen Boden und Kellerdecke entdeckte ich etwas, das wie eine große Metallkassette aussah, die mit reichlich Staub bedeckt war. Ich öffnete sie, und da waren sie: dreiundzwanzig durchgängig nummerierte Tonbandkassetten. Ich war schon drauf und dran, zum Telefon zu eilen, um Brian Jackson von meinem Fund zu berichten, doch nun war ich selbst neugierig geworden. Ich dachte mir, ich könnte mir ein paar Kassetten erst einmal selbst anhören und sie vielleicht auf CD überspielen. Das Dumme war allerdings, dass ich gar kein Abspielgerät für Tonbänder besaß. Wer hat heutzutage so etwas noch?
Ich überließ die Handwerker ihrer Arbeit auf der Veranda im ersten Stock und durchstöberte die Läden im lebhaften Kings-Cross-Viertel auf der Suche nach einem Tape Deck. Im Happy Hocker gibt es jede Menge gebrauchte Schallplattenspieler, Transistorradios und sogar ein altes Tonband-Mehrspurgerät, aber nicht das, was ich brauchte. In den basarhaften Läden fand ich alles, von Duftkerzen über Babywäsche, elektrische Handmixer, Serviettenringe, Schmuckkästchen bis hin zu Verlängerungskabeln. Genauso wenig Glück hatte ich im Gebrauchtwarenladen der wohltätigen Wayside-Chapel-Gemeinde – leider hatte ich keinen Bedarf an ausgeleierten Klamotten oder nicht zusammenpassenden Ohrringen …
Vielmehr musste ich mich bis elf Uhr gedulden, bis der Verkaufsladen vom Pfandhaus aufmachte, wo ich das fand, wonach ich suchte: einen von diesen Ghettoblastern aus den Achtzigerjahren mit schwarzem und silbrigem Gehäuse, der mich lediglich fünfundsechzig australische Dollar, also knapp fünfzig Euro kostete, inklusive Batterien.
Ich legte dem Verkäufer das Geld hin, schaltete den Radioempfänger ein und suchte nach einem Sender mit Jazzmusik. Der Klang aus dem Ghettoblaster war so laut, dass Duke Ellingtons Take the »A« Train für ein paar Augenblicke alle anderen Geräusche in dem Laden übertönte. Ich lud mir das Gerät auf die Schulter und verließ den Laden. Während ich zu dem bekannten Trompetensolo von Ray Nance die Straße entlangschlenderte, zog ich einige verstörte Blicke auf mich, und eine ältere Dame drückte mir sogar eine Münze in die Hand. Angesichts der Lautstärke, die aus den Boxen drang, war das Gewicht dieses Geräts erstaunlich gering.
Zu Hause angekommen bat ich Omar und seine Leute, heute mal früher und ausgiebig Mittagspause zu machen. Ich wollte eine Weile für mich sein und etwas Ruhe haben und zog mich in mein Arbeitszimmer zurück. Dort stöpselte ich das Kassettendeck in die Steckdose, goss mir einen doppelten Whisky ein und ließ mich auf meinem Schreibtischstuhl nieder.
Nun, da rundum Stille herrscht, öffne ich die Metallkassette, nehme die Kassette Nummer eins heraus, stecke sie ins Gerät und drücke auf Play.
Eigentlich hatte ich erwartet, nun einen Soundcheck von einem Konzert zu hören oder wie einige Musiker ihre Instrumente stimmen; doch nach einigen kratzenden Geräuschen vernehme ich nichts weiter als die näselnde Stimme meiner Tante und ihre Bitte, die Tonkassetten eine nach der anderen abzuhören und danach ihre
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