Bis auf die Haut
rot, wie gehäutet, von breiten nassen Streifen überzogen, an seiner Nasenspitze hängt eine Träne.
In ihm spiegeln sich Staunen und Liebe, er ist ganz außer sich über das winzige Händchen, das einem Außerirdischen zu gehören scheint, sich aus der Decke hochstreckt und Coles Daumen ergreift und fest umklammert. Als wäre das der beglückendste Moment in Coles Leben. Als würdest du kaum noch eine Rolle spielen.
Ein seltsamer, verdrießlicher Gedanke. Du beugst dich vor und streichst deinem Mann einmal über die haarlose Stelle hinter seinem Ohr, als wolltest du dich dafür entschuldigen. Er lächelt ohne aufzublicken und küsst den Fingernagel seines Sohns, ein Fingernagel, der so groß ist wie der Kopf eines Nagels in seinem Werkzeugkasten.
133. Lektion Wir alle müssen reisen, wenn nicht in ferne Länder,
so doch durchs Leben
Die Haut deines Sohnes ist dein neuer Tummelplatz, du sehnst dich schmerzhaft nach ihr, wenn er nicht bei dir ist, du willst sie einatmen wie im englischen Winter den Wüstenhimmel, nur ist deine Sehnsucht nach ihr noch viel, viel größer.
Und sie hat dich von einem stachligeren Verlangen in dir befreit, jedenfalls im Moment.
Ihr nennt ihn Jack.
Sein Gesicht entfaltet sich langsam. Seine Ohren sind wie zwei kleine zerdrückte Rosenblüten. Seine Haare sind, wenn man sie glatt streicht, wie die Spirale eines Schneckenhauses, wenn man sie zerzaust, wie die kleinen Wellen eines vom Wind gekräuselten Sees. Seine winzigen Fingernägel sind weich und ausgefranst, bis du sie wegschälst, seine Händchen tanzen im Schlaf. Seine Augen sind tief und leer und dunkel und blicken ins Unendliche. Sieht er dich? Du weißt es nicht. Auf jeden Fall sieht er deine Stimme, da bist du dir sicher, und deinen Geruch und deine Brustwarze, die ganz bestimmt. Du bist erschöpft, wie gelähmt. Er füllt jeden Winkel deines Daseins aus.
Als dich deine Mutter in der Klinik besucht, hält sie Jack so verkrampft, als wäre er kostbarstes Porzellan und sie hätte Angst, dass er zerbricht. Wie seltsam, denkst du dir, sie hat das doch alles schon einmal gemacht. Vielleicht ist sie außer Übung? Fürchtet sich davor, dass Jack zu schreien beginnt?
Wann kommst du zu uns babysitten, Omi?, scherzt Cole.
Vielleicht in ein, zwei Jahren, lacht sie, eine Spur zu grimmig.
Möglicherweise war das das Stichwort: Sie wird mit Jack erst ungezwungen umgehen können, wenn er kein Baby mehr ist, sondern eine Person, du wirst ein, zwei Jahre warten müssen. Vielleicht möchte sie auch, dass du in dieser Situation auf eigenen Füßen stehst, möchte dir Raum lassen. Du wirst sie nicht drängen. Während du sie ansiehst, wird dir klar, dass du kein Recht darauf hast, von ihr größeres Engagement zu erwarten. Sosehr du es dir auch wünschen würdest.
134. Lektion Das widrige Benehmen anderer kann so manches
Ungemach über uns bringen
Martha besucht dich in der Klinik. Jack schreit, als sie ihn im Arm hält, und du empfiehlst ihr, sie solle ihm doch ihren kleinen Finger in den Mund schieben. Prompt hört er auf.
Wahnsinn, sagt sie.
Das hat Prinzessin Diana immer gemacht. Ich hab alle meine Müttertipps aus der Glotze.
Ihr lacht beide.
Gibt dir deine Mutter keine nützlichen Ratschläge?, fragt sie.
Eigentlich nicht. Hat irgendwie keine Lust dazu, warum, weiß ich auch nicht.
Vielleicht hat sie Angst, sich zu blamieren.
Wie meinst du das?
Sie hat doch alles in ihrem Leben immer so perfekt gemeistert. Aber es ist ewig her, dass sie sich um ein Baby gekümmert hat, inzwischen hat sich wohl vieles verändert. Vielleicht möchte sie nicht, dass du merkst, wie wenig sie sich auskennt.
Du denkst daran, wie hölzern und unbeholfen sie Jack gehalten hat, sich mächtig anstrengte, damit er nur ja nicht schrie. Deine arme, alte, undurchschaubare Mutter; sie hasst es, wenn sie eingestehen muss, etwas nicht zu können. Vielleicht liegt Martha ja gar nicht so falsch.
Sie ist schon am Gehen, da fragt sie dich, ob du schon das Neueste von Gabriel gehört hättest. In deinem Magen beginnt ein ganzer Schwarm Schmetterlinge zu flattern, zum Glück ist Cole nicht da und hört seinen Namen nicht. Du bringst es nicht über dich, Martha zu fragen, welche Art von Kontakt sie eigentlich zu ihm hat, du weißt, dass du rot werden würdest. Du willst auch nichts von einer Ehe, von einer Frau hören.
Er ist wieder in die Bibliothek gekommen, erzählt Martha. Er war völlig verändert. Hat sich die Haare schneiden lassen. Trug dieses frisch
Weitere Kostenlose Bücher