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Bis auf die Knochen

Bis auf die Knochen

Titel: Bis auf die Knochen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jefferson Bass
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doch k ü rzlich hatte ich in der New York Times eine beunruhigende Geschichte ü ber das Wiederaufflackern der Krankheit in Indien und Afrika gelesen. Dort waren Dorfbewohner misstrauisch gegen ü ber den Impfprogrammen der Regierung geworden. In Nigeria war ein Ger ü cht im Umlauf, der Impfstoff enthalte ein b ö ses amerikanisches Medikament, um nichtsahnende afrikanische Kinder zu sterilisieren. Als Angst und Zorn sich von Dorf zu Dorf ausbreiteten, mussten Mitarbeiter von Gesundheitsstationen um ihr Leben f ü rchten und fliehen, und die Impfprogramme kamen zum Erliegen. Bald traten wieder Poliof ä lle auf, breiteten sich rasch aus und warfen die Bem ü hungen um eine weltweite Ausrottung der Krankheit um Monate oder sogar Jahre zur ü ck. Oh, wie n ä rrisch sind die Sterblichen, dachte ich, frei nach Shakespeare. Und wie sterblich sind wir Narren.
    Ich stapfte den H ü gel wieder hinauf und nahm den Pfad, der zu Jess’ Rekonstruktion in der N ä he des oberen Zauns f ü hrte. Durch das schie ß ende Fr ü hlingslaub erhaschte ich einen kurzen Blick auf unser Forschungsobjekt, das immer noch an den Baum gebunden war, die blonde Per ü cke leuchtete fast vor der grauschwarzen Rinde der Eiche. Aber wo war Jess?
    » Jess? Bist du hier? Jess, du versteckst dich doch nicht vor mir, oder? «
    Ich bekam keine Antwort. Als ich durch das letzte Dickicht im Unterholz zwischen mir und der gro ß en Kiefer trat, sah ich, dass Jess tats ä chlich hier war, doch ich begriff auch augenblicklich, warum sie mir nicht geantwortet hatte.
    Jess war an dem Baum, ihr nackter K ö rper war in einer obsz ö nen Parodie des Geschlechtsverkehrs an die gespendete Leiche gefesselt. Die blonde Per ü cke und Blut verdeckten Teile ihres Gesichts, doch es bestand kein Zweifel, dass es Jess’ Gesicht war, kein Zweifel, dass es Jess’ K ö rper war. Und es bestand kein Zweifel, dass Jess tot war.
    Ich hatte an Hunderten von Mordschaupl ä tzen gearbeitet, doch nie an einem, wo ich pers ö nlich involviert war, wo ich eine intime Beziehung zum Opfer hatte. So jemand war ich nicht und so etwas tat ich auch nicht: Ich war der forensische Wissenschaftler, der leidenschaftslose Beobachter, der scharfsichtige Doktor, der herbeigerufen wurde, um das Puzzle zusammenzusetzen. Ich stolperte nicht unvermutet ü ber eine Szene, die mir das Herz aus dem Leibe riss, die mir die Knie weghaute, die ein Gef äß in meinem Hirn platzen lie ß . So jemand war ich nicht, so jemand war ich nie gewesen, und ich konnte mir, selbst als ich auf Jess’ verst ü mmelte Leiche starrte, auch einfach nicht vorstellen, dass ich so jemand je sein w ü rde.
    Meine F üß e waren wie am Boden angewurzelt, in meinem Kopf ging alles drunter und dr ü ber. Mein erster Impuls war, zu Jess zu laufen, nach dem Puls zu tasten und zu beten, dass ich die Leere in ihren Augen und die Reglosigkeit ihrer schlaffen Glieder falsch interpretiert hatte. Nein, sagte ein anderer Impuls, fass blo ß nichts an, geh keinen einzigen Schritt n ä her. Es ist ein Tatort, und du solltest ihn nicht verunreinigen. Das w ä ren zumindest ungef ä hr die Worte gewesen, die dieser Impuls benutzt h ä tte, wenn mein Hirn in der Lage gewesen w ä re, Worte zu formulieren, denn ich k ä mpfte hart gegen das Verlangen an, zu ihr zu gehen.
    Also stand ich einen Augenblick, der sich zu einer Ewigkeit dehnte, da wie festgewurzelt. Schlie ß lich sp ü rte ich, dass sich meine Hand in der Ges äß tasche um etwas Hartes schloss, und ich zog es heraus, um zu sehen, was es war. Es war klein, l ä nglich und silbern; ich starrte darauf, als w ä re es ein geheimnisvolles Artefakt aus einer uralten oder einer interplanetarischen Zivilisation, bis mir schlie ß lich d ä mmerte, dass es mein Handy war. Unbeholfen klappte ich es auf. Ich hatte M ü he, mich auf die Nummer zu besinnen, doch dann dr ü ckte ich die Neun, die Eins und noch einmal die Eins. Nichts geschah. Ich gab mir alle M ü he, mich daran zu erinnern, wie ich dieses Ger ä t in einem fr ü heren Leben einst benutzt hatte; und allm ä hlich besann ich mich darauf, dass es da noch eine Verbindungstaste gab, und zwang mich mit aller Macht, sie zu dr ü cken. Als ich eine weibliche Stimme » Polizei, Notruf « sagen h ö rte, lie ß ich das Handy beinahe fallen.
    Ich starrte wie benommen darauf. » Hier ist die Polizei, haben Sie einen Notfall? «
    Was sollte ich sagen? Wie und wo sollte ich anfangen, das zu beschreiben, was ich hatte, was ich vor

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