Bis auf die Knochen
dr ü ckte mir einen schnellen Kuss auf die Wange und sagte: » Danke, Bill. Du verstehst das vielleicht nicht oder glaubst es nicht, aber ich liebe dich.«
Und dann war sie weg.
23
Drei Tage waren vergangen, seit Jess und ich uns getrennt hatten. Drei Tage ohne Anruf, ohne E-Mail, ohne SMS.
Die Tore zur Body Farm standen leicht offen, was wahrscheinlich bedeutete, dass ein Doktorand drinnen war, um nach einem Forschungsobjekt zu schauen. Ich parkte direkt neben dem Tor – die Body Farm war der einzige Ort, der mir einfiel, wo der n ä chstgelegene Parkplatz tats ä chlich der am wenigsten begehrenswert war, zumindest hinsichtlich der Atmosph ä re – und schwang das Maschendrahttor nach au ß en. Als ich auf das innere Holztor zuging, kam mir irgendetwas pl ö tzlich ganz seltsam vor, und ich ging zur ü ck auf den Parkplatz und sah mich kurz dort um. Mein Auto war, wie ich sah, das einzige Fahrzeug, das irgendwo in der N ä he des Tors stand, und das verwirrte mich. Es war unwahrscheinlich, dass ein Student zu Fu ß hergekommen war: Die Forschungseinrichtung lag auf der Stra ß e knapp f ü nf Kilometer vom Anthropologischen Institut entfernt, und die Stra ß e war die einzige M ö glichkeit, von hier nach da zu kommen, es sei denn, man wollte durch den Tennessee River schwimmen und damit die Entfernung auf anderthalb Kilometer verringern. Vom Leichenschauhaus oder vom rechtsmedizinischen Institut konnte jemand zu Fu ß hergekommen sein, doch fast ein Kilometer Zufahrtsstra ß e und Parkpl ä tze trennten die Einrichtung vom Universit ä tskrankenhaus, und ich hatte noch nie erlebt, dass ein Student das auf sich genommen hatte.
Als ich ans Tor trat, fiel mein Blick auf einen Notizzettel, der zwischen zwei Brettern steckte. » Bill – ich bin drinnen. Komm rein. Jess.« Ich blickte noch einmal ü ber den Parkplatz, jetzt in einem weiteren Radius, doch von einem feuerwehrroten Porsche war weit und breit keine Spur.
Ich trat auf die Hauptlichtung und erwartete halb, Jess mit einem Doktoranden plaudern zu sehen, den sie breitgeschlagen hatte, sie reinzulassen. Die Lichtung war leer.
» Hallo? «, rief ich. » Jess? « Keine Antwort. Ich spazierte ein St ü ck den H ü gel hinunter an den Ü berresten eines alten Schotterwegs entlang, wo wir im Allgemeinen die Leichen ablegten, die nur zum Skelettieren hergebracht wurden. Jess hatte uns in den vergangenen zwei Jahren gut ein Dutzend oder mehr Leichen von Chattanooga raufgeschickt. Sie baute dort unten f ü r das B ü ro des Medical Examiners eine Skelettsammlung auf, nicht um mit unserer zu konkurrieren, sondern nur zu Referenzzwecken und als Unterrichtsmaterial. Ich erinnerte mich vage, dass wir im Augenblick zwei oder drei Leichen aus Chattanooga zum Skelettieren dahatten, also war es m ö glich, dass sie schauen wollte, wie weit sie waren.
Die zwei Leichen aus Chattanooga waren da, doch Jess nicht. Eine bestand bis auf ein paar Flecken mumifizierter Haut ü ber dem Brustkorb nur noch aus den blo ß en Knochen; die andere war bereits ü ber die Stadien der Aufbl ä hung und aktiven Zersetzung hinaus und jetzt im trockenen Stadium, also konnte sie bald vollends gereinigt und zur ü ckgeschickt werden. Die sauberere der beiden Leichen war, wie mir auffiel, obduziert worden; das – zweifellos von Jess – sorgf ä ltig aufgeschnittene Sch ä deldach lag auf dem Boden neben dem Sch ä del und erinnerte ein wenig an einen ungew ö hnlich glatten Schildkr ö tenpanzer. Dem Vorspringen des Augenbrauenbogens und der Gl ä tte der Sch ä deln ä hte nach zu schlie ß en, deren sich schl ä ngelnde Fugen sich fast ganz gef ü llt hatten und verschwunden waren, war er ein ä lterer Mann. Die kr ä ftigen Knochen des Brustkorbs und der Arme und die gro ß en Muskelansatzpunkte zeugten von einem kr ä ftigen Oberk ö rper. Doch die Beinknochen passten nicht in dieses Bild: Sie waren zart und spindeld ü rr, wie die einer d ü nnen, gebrechlichen alten Frau, und ein Bein war k ü rzer als das andere und verdreht. L ä hmung, dachte ich zuerst. Dann: Nein. Polio. Polio hatte in den 1930er und 40er Jahren und auch Anfang der 50er Jahre noch eine breite und tragische Schneise in eine ganze Generation amerikanischer Kinder geschlagen; Polio griff die Myelinscheide von Muskeln und Nerven an und kr ü mmte innerhalb weniger Tage oder Wochen junge Knochen unwiederbringlich. Ich hatte gedacht, Polio sei praktisch auf der Erde ausgerottet, genauso wie die Pocken besiegt waren,
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