Bis aufs Blut - Thriller
sonst sagen sollen: Wenn ich einen einzigen Bissen esse, besteht die Gefahr, dass ich mich den ganzen Vormittag übergebe? Mrs. Elfman hätte das für einen Witz gehalten.
»Ist Archie auf?«
»Keine Ahnung«, knurrte Freddy.
Archie war ihr Sohn, siebzehn Jahre alt und »Computerspieler« in einer Popgruppe. Eleanor hatte noch nie was davon gehört, dass sich ein Computer wie ein Musikinstrument spielen ließ, aber dann hatte Archie es ihr demonstriert. Jetzt nahm seine Gruppe ihre zweite Platte auf, nachdem die erste in örtlichen Klubs sehr gut gelaufen war. Sie ging an die Treppe und rief nach ihm. Es kam keine Antwort.
»Er ist ein gottverdammter Dracula«, nörgelte Freddy. »Lässt sich bei Tageslicht nicht blicken.« Mrs. Elfman warf ihm einen bösen Blick zu, und Eleanor verschwand in ihrem Arbeitszimmer.
Eleanor Ricks war eine freie Enthüllungsjournalistin, die es irgendwie geschafft hatte, sich ohne die üblichen »Enthüllungen« über Popstars, Medienpromis und Royals einen Namen zu machen. Eines Tages aber hatte sie erfahren, dass Illustrierte beabsichtigten, über sie zu berichten, und sie hatte ihre bisherige berufliche Laufbahn neu überdacht. Nachdem sie also jahrelang für Zeitungen und Zeitschriften geschrieben hatte, stieg sie jetzt endlich ins Fernsehen ein - gerade als Freddy, wie es aussah, sich davon zu verabschieden begann. Armer Freddy: Sie dachte einen Augenblick lang an ihn und machte sich dann an die Arbeit.
Heute würde sie Molly Prendergast interviewen, die Sozialversicherungsministerin. Treffpunkt war ein Hotel im Stadtzentrum. Sie würden sich über nichts unterhalten, was das Sozialversicherungsministerium oder Molly Prendergasts Amt betraf, ja nicht einmal über ihre Rolle innerhalb ihrer Partei. Es sollte ein weit persönlicheres Gespräch werden, was auch der Grund dafür war, dass sie sich nicht im Ministerium, sondern in einem Hotel trafen.
Das war Eleanors Idee gewesen. Sie nahm an, dass es ihr auf neutralem Boden gelingen würde, mehr aus Molly Prendergast herauszuholen. Sie wollte keine Politikerin reden hören - sie wollte eine Mutter hören …
Sie ging ihre Notizen noch einmal durch, ihre Fragenliste, die Zeitungsausschnitte und Videoaufzeichnungen. Sie telefonierte mit ihren Rechercheuren und ihrer Assistentin. Es war nur ein Vorabinterview und würde nicht gesendet werden. Eleanor würde es auf Tonband aufzeichnen, aber nur für den eigenen Gebrauch. Es würde keine Kameras oder Tontechniker geben - nur zwei Frauen, die sich zu einem Plausch und einem Drink trafen. Sollte sich Prendergast als nützlich für das Projekt erweisen, würde man sie anschließend um ein richtiges Interview vor laufender Kamera bitten und ihr dann noch einmal die gleichen oder ähnliche Fragen stellen. Eleanor wusste, dass die Molly Prendergast, die sie heute vors Mikro bekam, nicht dieselbe sein würde wie die zu einem späteren Termin. Vor der Kamera würde die Politikerin viel vorsichtiger, viel mehr auf der Hut sein. Aber Eleanor würde trotzdem etwas mit ihr anfangen können: Prendergast besaß einen Namen, und diese Story brauchte einen Namen, der ihr etwas Aufmerksamkeit verschaffte. Behauptete Joe jedenfalls die ganze Zeit.
Sie hatte die Akkus ihres Kassettenrekorders über Nacht im Ladegerät gelassen. Um sie zu testen, sprach sie jetzt ein paar Worte aufs Band und spulte es dann zurück. Der Rekorder hatte, so klein, wie er war, ein eingebautes Stereomikrofon und einen winzigen, aber leistungsstarken Lautsprecher. Sie würde drei Neunzig-Minuten-Kassetten mitnehmen, obwohl nur ein einstündiges Interview geplant war. Aber das Gespräch konnte sich schließlich in die Länge ziehen, oder ein Band konnte reißen. Was dachte sie sich da eigentlich zusammen? Sie würden nicht überziehen. Zwei Kassetten würden vollauf reichen. Aber mit Akkus sollte sie besser nicht geizen.
Sie spulte das Videomaterial zurück und sah es sich noch einmal aufmerksam an, ging dann an ihren Computer und feilte an ein paar ihrer Fragen, löschte eine und fügte zwei weitere hinzu. Sie druckte diese neue Liste aus und las sie noch einmal durch. Dann faxte sie sie ihrem Produzenten zu und erhielt telefonisch sein Okay.
»Sind Sie sicher?«, fragte Eleanor.
»Ich bin sicher. Machen Sie sich wegen der Sache keinen Kopf, Lainie.« Sie hasste es auf den Tod, wenn er sie »Lainie« nannte. Eines Tages würde sie es ihm ins Gesicht sagen … Aber nein, das stimmte ja gar nicht. Es war weiß Gott ein
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