Bis Das Feuer Die Nacht Erhellt
wir uns bisher nie begegnet waren. Am liebsten wäre ich einfach weggelaufen, gleichzeitig verspürte ich aber auch das starke Bedürfnis, ihn irgendwie einordnen zu können.
Er nahm einen weißen Spielball vom nächsten Tisch und warf ihn träge ein paar Mal in die Luft.
»Komm schon«, sagte Scott und wedelte mit dem Billardstock vor meinem Gesichtsfeld hin und her. Die anderen Kerle, die um den Tisch standen, lachten. »Mach’s, Nora«, sagte Scott. »Nur ein kleines Küsschen. Das bringt Glück.«
Er schob den Billardstock unter den Saum meines Hemdes und hob es an.
Ich schlug den Billardstock weg. »Hör auf damit.«
Da sah ich Bewegung bei dem Kerl im roten Muskelshirt. Es geschah so schnell, dass ich zwei Herzschläge lang brauchte, bis ich merkte, was geschehen würde. Er bog seinen Arm zurück und warf den Ball durch den Raum. Einen Moment später zerbrach der Spiegel an der Wand gegenüber, und es regnete Scherben auf den Boden.
Es wurde still im Raum bis auf den Classic-Rock, der aus den Lautsprechern klang.
»Du«, sagte der Typ im roten Muskelshirt. Er zielte mit einer Pistole auf den Mann im Pullunder. »Gib mir das Geld.« Er winkte ihn mit seiner Pistole heran. »Lass deine Hände, wo ich sie sehen kann.«
Neben mir schob sich Scott nach vorn in die Menge. »Kommt nicht in Frage, Mann. Das ist unser Geld.« Ein paar zustimmende Rufe waren aus dem Raum zu hören.
Der Typ im roten Shirt hielt die Pistole weiter auf den Mann im Pullunder gerichtet, aber seine Augen wanderten seitwärts zu Scott. Er grinste und zeigte die Zähne. »Jetzt nicht mehr.«
»Wenn du das Geld nimmst, dann bring ich dich um.« Da war eine stille Wut in Scotts Stimme. Es hörte sich an, als meinte er es ernst. Ich stand wie festgefroren da, atmete kaum. Ich hatte Angst, was als Nächstes geschehen würde, weil nichts in mir daran zweifelte, dass die Pistole geladen war.
Das Lächeln des Bewaffneten wurde breiter.
»Niemand hier wird zulassen, dass du dich mit unserem Geld davonmachst«, sagte Scott. »Tu dir selbst einen Gefallen und nimm die Waffe runter.«
Ein weiteres zustimmendes Murmeln erfüllte den Raum.
Der Tatsache zum Trotz, dass die Temperatur im Raum anzusteigen schien, kratzte der Mann im Muskelshirt sich völlig entspannt mit dem Lauf der Waffe den Nacken. Er schien nicht im Geringsten besorgt zu sein. »Nein.« Dann richtete er die Pistole auf Scott und befahl ihm: »Stell dich auf den Tisch.«
»Du kannst mich mal.«
»Stell dich auf den Tisch.«
Der Kerl im roten Shirt nahm die Waffe in beide Hände und zielte auf Scotts Brust. Ganz langsam nahm Scott die Hände auf Schulterhöhe und ging rückwärts auf den Billardtisch zu. »Du kommst hier nicht lebend raus. Wir sind dreißig gegen einen.«
Der Typ im roten Shirt war mit drei Schritten bei Scott. Er stand einen Augenblick lang direkt vor ihm, den Finger
am Abzug. Ein Schweißtropfen lief seitlich an Scotts Wange hinunter. Ich konnte nicht glauben, dass er ihm die Waffe nicht wegriss. Wusste er denn nicht, dass er nicht sterben konnte? Wusste er denn nicht, dass er ein Nephilim war? Aber Patch hatte doch gesagt, er gehörte zu einer Nephilim-Bruderschaft – wie konnte er es da nicht wissen?
»Du machst einen großen Fehler«, sagte Scott, seine Stimme immer noch cool, aber mit einem ersten Anflug von Panik darin.
Ich fragte mich, warum niemand Anstalten machte, ihm zu helfen. Wie Scott gesagt hatte, waren sie dem Kerl im roten Shirt haushoch überlegen. Aber der hatte etwas Skrupelloses und beängstigend Mächtiges an sich. Etwas … aus einer anderen Welt. Ich fragte mich, ob er ihnen genauso Angst machte wie mir.
Ich fragte mich außerdem, ob das mulmige und unangenehm vertraute Gefühl in mir bedeutete, dass er ein gefallener Engel war. Oder ein Nephilim.
Unter allen Gesichtern in der Menge sah ich plötzlich ausgerechnet in Marcies. Sie stand am anderen Ende des Raums und hatte etwas in ihrem Gesichtsausdruck, was ich nur als verwunderte Faszination beschreiben konnte. Da wusste ich ganz genau, dass sie keine Ahnung hatte, was passieren würde. Sie hatte nicht gemerkt, dass Scott Nephilim war und mehr Kraft in einer Hand hatte als ein Mensch in seinem ganzen Körper. Sie hatte Chauncey nie gesehen – den ersten Nephilim, den ich kennengelernt hatte – wie er mein Handy in seiner Handfläche zermalmt hatte. Sie war nicht dabei gewesen in der Nacht, als er mich durch die Schule gejagt hatte. Und der Kerl im roten Muskelshirt? Ob
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